JAMES JOYCE Buch DUBLINER Volltext ZWEI KAVALIERE Deutsche

 

James Joyce
Dubliner
VollText

(auf Englisch: Dubliners, 1914)

 

Joyce Geschichte

Zwei Kavaliere

(auf Englisch: Two Gallants)

 

Volltext der Geschichte

ins Deutsche übersetzt

Irische Literatur

 

Zwei Kavaliere (Original auf Englisch: Two Gallants) ist eine Kurzgeschichte, die von James Joyce geschrieben und 1914 veröffentlicht wurde. Es ist die sechste Geschichte in der Sammlung von Geschichten im Buch “Dubliner” (Englisch: Dubliners). James Joyce hält die Kurzgeschichte Zwei Kavaliere (Two Gallants) für eine der wichtigsten im Buch “Dubliner”.

Unten können Sie die ins Deutsche übersetzte Kurzgeschichte “Zwei Kavaliere” (Two Gallants) von James Joyce lesen.

Die englische Originalversion von James Joyces Kurzgeschichte “Zwei Kavaliere” (Two Gallants) können Sie hier lesen.

Sie können James Joyces Kurz geschichte “Zwei Kavaliere” (Two Gallants) lesen, die in andere Sprachen übersetzt wurde: Italienisch, Spanisch, Französisch, Chinesisch usw. durch Auswahl der Sprache im oberen oder seitlichen Menü.

 

Inhaltsverzeichnis der James Joyce

“Dubliner” (Dubliners) Buchsammlung:

(mit Links, wo Sie sie auf Yeyebook lesen können)

 

Die Schwestern (The sisters)

Eine Begegnung (An Encounter)

Arabia (Araby)

Eveline

Nach dem Rennen (After the Race)

Zwei Kavaliere (Two Gallants)

Die Pension (The Boarding House)

Eine kleine Wolke (A little Cloud)

Entsprechungen (Counterparts)

Erde (Clay)

Ein betrüblicher Fall (A Painful Case)

Efeutag im Sitzungszimmer (Ivy Day in the Committee Room)

Eine Mutter (A Mother)

Gnade (Grace)

Die Toten (The dead)

Gute Lektüre.

 

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James Joyce

Dubliner

Kurzgeschichte

Zwei Kavaliere

(Two Gallants)

 

Volltext der Geschichte

ins Deutsche übersetzt

 

               Der graue, warme Augustabend hatte sich auf die Stadt herabgesenkt, und milde warme Luft, eine Erinnerung an den Sommer, strich durch die Straßen. Eine lustig-bunte Menge schwärmte durch die Straßen, in denen wegen der Sonntagsruhe die Läden geschlossen waren.

Wie leuchtende Perlen glänzten die Lampen von den hohen Masten herab auf das lebende Gewoge, das, Form und Farbe dauernd wechselnd, ein immer gleiches, nie verstummendes Gemurmel in die warme, graue Abendluft emporsandte. Zwei junge Leute kamen den Ruthland Square herunter.

 

Einer von ihnen hatte grade einen langen Monolog beendet. Der andere, der am Rande des Trottoirs ging und manchmal dank der Unhöflichkeit seines Gefährten auf den Fahrweg treten mußte, zeigte ein lustiges, lauschendes Gesicht. Er war untersetzt und hatte rote Wangen.

Seine Yachtmütze hatte er weit in den Nacken geschoben, und die Erzählung, der er zuhörte, ließ dauernde Aus drucks wogen über sein Gesicht fluten, die von den Ecken der Nase, den Augen und dem Munde ausgingen. Leicht wieherndes Gelächter spritzte aus seinem zuckenden Mund.

Seine Augen, die in boshafter Freude blinzelten, sahen jeden Augenblick in seines Gefährten Gesicht. Ein- oder zweimal legte er den leichten Waterproof, den er wie ein Toreador über die Schulter geworfen hatte, zurecht. Seine Breeches, seine weißen Schuhe mit den Gummisohlen und sein elegant geschlungener Waterproof brachten Jugend zum Ausdruck. Aber um die Taille war seine Gestalt rundlich, sein Haar war spärlich und grau, und sein Gesicht sah, wenn die Ausdruckswogen verebbt waren, verwittert aus.

 

Als er sicher war, daß die Erzählung zu Ende, lachte er geräuschlos eine ganze halbe Minute. Dann sagte er: »Na! … Da ist das Ende von weg!« Seine Stimme schien ohne alle Kraft; und um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, fügte er humorvoll hinzu: »Da ist das Ende von weg, wirklich das Ende vom Ende von weg, wenn ich mich so ausdrücken darf.«

Als er dies gesagt hatte, wurde er ernst und still. Seine Zunge war müde, denn er hatte den ganzen Nachmittag über in einer Wirtschaft in der Dorset Street geschwatzt. Die meisten Leute hielten Lenehan für einen Zuhälter, aber trotz dieses Rufes hatte er es durch seine Geschicklichkeit und Beredsamkeit fertiggebracht, daß seine Freunde nie irgendwie Partei gegen ihn ergriffen.

Er hatte eine ungezwungene Art, sich einer Gruppe von ihnen in einer Bar zu nähern, sich geschickt am Rande der Gesellschaft zu halten, bis er schließlich der Mittelpunkt wurde.

 

Er war ein lustiger Vagabund, wußte eine Menge Geschichten, blöde Witze und Rätsel. Er hatte kein Gefühl für Unhöflichkeiten. Keiner wußte, wie er die schwere Aufgabe des Lebens löste, aber sein Name stand irgendwie mit Rennschiebereien in Verbindung. »Und wo hast du sie aufgetan, Corley?« fragte er. Corley strich mit der Zunge schnell über die Unterlippe.

»Eines Abends, Mensch«, sagte er, »ging ich durch die Dame Street, da sah ich ein feines Weib unter der Waterhouse Uhr stehen, sagte ihr guten Abend, verstehste. Dann gingen wir am Kanal spazieren, und sie erzählte mir, sie wäre in einem Hause in der Baggot Street in Stellung. Ich legte ihr den Arm um die Taille und drückte sie an diesem Abend ein bißchen.

Dann habe ich mich für den nächsten Sonntag mit ihr verabredet. Wir gingen nach Donnybrook, und da nahm ich sie mit in ein Feld. Sie erzählte mir, sie ginge sonst mit einem Milchmann … Es war herrlich, Mensch. Brachte mir jeden Abend Zigaretten mit und bezahlte die Tram hin und zurück.

Und eines Abends brachte sie mir zwei verflucht feine Zigarren mit – verflixt feine Sorte, verstehste, die der Alte immer rauchte … Ich hatte Angst, daß es geschnappt hätte. Aber die kennt den Rummel.« »Vielleicht glaubt sie, daß du sie heiraten willst«, sagte Lenehan.

 

»Ich hab ihr erzählt, daß ich keine Arbeit habe«, sagte Corley, »hab’ ihr auch erzählt, daß ich bei Pim in Stellung war. Meinen Namen kennt sie nicht. Bin denn doch zu schlau, ihr den zu sagen. Aber sie glaubt, ich wäre was Besseres, verstehste.« Wieder lachte Lenehan geräuschlos. »Von allen guten Geschichten, die ich je hörte«, sagte er, »ist die bestimmt die beste.«

Corleys ganze Haltung quittierte für dieses Kompliment. Das Wiegen seines dicken Körpers veranlaßte seinen Freund, ein paar leichte Sprünge vom Trottoir auf den Fahrdamm und wieder zurück aufs Trottoir zu machen.

Corley war der Sohn eines Polizeiinspektors und hatte seines Vaters Statur und Gang geerbt. Er ging mit den Händen auf den Hüften, hielt sich grade und wiegte den Kopf von links nach rechts. Sein Kopf war dick, rund, fettig; er schwitzte bei jedem Wetter; ein großer, runder Hut, der schief saß, erinnerte an eine Zwiebel, die aus einer andern herauswächst.

Er sah immer gradeaus, als wäre er auf der Parade, und wenn er auf der Straße hinter jemandem hergucken wollte, mußte er seinen Körper in den Hüften drehen.

 

Augenblicklich feierte er. Wenn irgendwo eine Stellung frei war, war stets ein Freund bereit, ihn darauf aufmerksam zu machen. Man sah ihn oft ernst plaudernd mit Polizisten in Zivil. Er kannte den springenden Punkt aller Geschichten und gab gerne ein endgültiges Urteil ab. Er sprach, ohne auf das zu hören, was seine Gefährten sagten.

Seine Unterhaltung drehte sich hauptsächlich um ihn selbst, was er dem und dem gesagt und was der und der ihm gesagt und was er dann wieder gesagt hätte, um die Sache beizulegen. Wenn er diese Dialoge berichtete, aspirierte er den ersten Buchstaben seines Namens, wie Florentiner das tun.

Lenehan bot seinem Freund eine Zigarette an. Als die beiden jungen Männer durch die Menge weitergingen, wandte sich Corley gelegentlich um und lächelte einem der vorbeigehenden Mädchen zu, während Lenehans Blick auf den großen, schwachen Mond gerichtet war, der einen doppelten Hof hatte.

 

Er beobachtete ernst, wie das graue Gewebe aus Zwielicht über sein Gesicht hinzog. Schließlich sagte er: »Nun … sag mal, Corley, hoffentlich gelingt der Schlag, was?« Als Antwort kniff Corley ausdrucksvoll ein Auge zu. »Meinst du, sie fällt drauf rein?« fragte Lenehan zweifelnd. »Bei Weibern kennt man sich nie aus.«

»Schon alles in Ordnung«, sagte Corley. »Weiß schon, wie ich die rumkriege, Mensch. Hat so ’nen kleinen Pips für mich.« »Du bist, was ich einen lustigen Lothario nenne«, sagte Lenehan. »Und ein echter Lothario dazu.« Ein Schatten leichten Spottes milderte die Servilität seines Wesens.

 

Seiner selbst wegen sagte er seine Schmeicheleien immer auch so, daß sie als Spott ausgelegt werden konnten. Aber so feinen Geistes war Corley nicht. »Nichts geht über so ’n feines Dienstmädchen«, behauptete er. »Laß dir das gesagt sein.« »Von einem, der sie alle durchprobiert hat«, sagte Lenehan.

»Zuerst ging ich mit Mädchen, verstehste«, sagte Corley vertrauensvoll, »Mädchen vom South Circular. Irgendwo, auf der Tram lernte ich sie kennen, bezahlte die Tram oder nahm sie mit ins Konzert oder Theater oder kaufte ihnen Schokolade oder Bonbons oder sonst was. Hab genug Geld für sie auszugeben«, fügte er überzeugend hinzu, als wüßte er, daß der andere ihm nicht glaubte.

Aber Lenehan glaubte es ganz gerne; er nickte ernst. »Ich kenne den Rummel«, sagte er, »einer ist immer der Dumme dabei.« »Der Schlag soll mich rühren, wenn ich auch nur je einen Pfennig dabei verdient habe«, sagte Corley. »Mich dito«, sagte Lenehan. »Nur mit einer Ausnahme«, sagte Corley.

Er feuchtete die Oberlippe an, indem er mit der Zunge darüber glitt. Die Erinnerung erhellte seine Augen. Auch er sah nach der blassen Mondscheibe, die jetzt fast verschleiert war, und schien nachzudenken. »Sie war … na, ein feines Weib«, sagte er voll Bedauern.

 

Wieder schwieg er. Dann fügte er hinzu: »Sie ist jetzt versorgt. Hab sie mal neulich abends mit zwei Kerlen zusammen die Earl Street runterfahren sehen.« »Und das hast du fertiggebracht, glaube ich«, sagte Lenehan. »Vor mir waren schon andere dran«, sagte Corley philosophisch. Diesmal aber wollte Lenehan es nicht glauben. Er wiegte den Kopf hin und her und lächelte.

»Mir kannst du nichts vormachen, das weißt du, Corley«, sagte er. »Ehrenwort«, sagte Corley. »Hat sie mir ja selbst erzählt.« Lenehan machte eine tragische Geste. »Gemeiner Betrüger«, sagte er. Während sie am Gitter des Trinity College entlang gingen, hüpfte Lenehan auf den Fahrweg und sah hinauf zur Uhr. »Zwanzig nach«, sagte er. »Zeit genug«, sagte Corley. »Sie wird schon da sein. Ich lasse sie immer ein bißchen warten.« Lenehan lachte ruhig.

 

»Verflixt noch mal, Corley, du weißt, wie man sie anpakken muß«, sagte er. »Kenne alle ihre kleinen Tricks ganz genau«, gestand Corley. »Aber hör mal«, sagte Lenehan wieder, »bist du sicher, daß es gelingt? Weißt du, ist doch ’ne kitzlige Sache. In diesem Punkt sind sie verdammt zugeknöpft. Was?« Seine hellen, kleinen Augen durchforschten, Beruhigung suchend, seines Gefährten Gesicht.

Corley bewegte den Kopf hin und her, als wolle er ein hartnäckiges Insekt verjagen, und zog die Brauen zusammen. »Krteg’s schon fertig«, sagte er. »Überlaß das nur mir, was?« Lenehan sagte nichts mehr. Er hütete sich wohl, seinem Freunde die Laune zu verderben, zum Teufel gejagt zu werden und zu hören zu bekommen, daß sein Rat nicht erwünscht wäre. Ein wenig Takt war notwendig. Aber Corleys Gesicht war bald wieder glatt.

 

Seine Gedanken hatten eine andere Richtung genommen. »Sie ist ein nettes, feines Mädel«, sagte er mit Nachdruck, »ja das ist sie.« Sie gingen über die Nassau Street und bogen dann in die Kildare Street ein. Nicht weit vom Eingang des Clubs stand ein Harfner auf der Straße und spielte einem kleinen Kreis von Zuhörern vor.

Achtlos zupfte er an den Saiten, blickte von Zeit zu Zeit schnell in das Gesicht eines Neukommenden und dann wieder von Zeit zu Zeit müde hinauf in den Himmel. Auch seine Harfe, die sich nicht darum kümmerte, daß ihre Hülle sie nur halb bedeckte, schien der Blicke der Fremden und der Hände ihres Herren müde zu sein.

Die eine Hand spielte im Baß die Melodie von Silent, O Moyle, während die andere nach jeder Gruppe von Tönen in den Diskant fuhr. Die Töne der Melodie klangen tief und voll. Ohne zu sprechen gingen die beiden jungen Männer die Straße hinauf, die traurige Musik folgte ihnen. Als sie Stephen’s Green erreichten, gingen sie über die Straße. Hier erlösten sie der Lärm der Trams, die Lichter und die Menge von ihrem Schweigen. »Da ist sie«, sagte Corley.

 

An der Ecke der Hume Street stand ein junges Weib. Sie trug ein blaues Kleid und einen weißen Matrosenhut. Sie stand am Randstein, schwang in der einen Hand einen Sonnenschirm. Lenehan wurde lebendig. »Will sie mir mal begucken, Corley«, sagte er. Corley sah seinen Freund von der Seite an, und ein häßliches Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

»Willst du mir ins Gehege kommen?« fragte er. »Verdammt!« sagte Lenehan frech, »Ich will ihr ja gar nicht vorgestellt werden. Will sie mir nur mal begucken. Auffressen tu’ ich sie gewiß nicht.« »O … Nur mal begucken?« sagte Corley liebenswürdiger. »Nun ich will dir was sagen. Ich gehe rüber und spreche mit ihr, und du gehst dann vorbei.« »Gut«, sagte Lenehan.

 

Ein Bein hatte Corley über die Ketten gehoben, als Lenehan rief: »Und dann? Wo treffen wir uns?« »Halb elf«, antwortete Corley, der das andere Bein herüberhob. »Wo?« »Ecke Merrion Street. Daher kommen wir zurück.« »Nun schmeiß den Kram«, sagte Lenehan zum Abschied. Corley antwortete nicht.

Er schlenderte über den Fahrdamm, bewegte den Kopf von der einen Seite auf die andere. Sein dicker Körper, sein langsamer Schritt und der kräftige Klang seiner Stiefel hatten etwas von einem Eroberer an sich. Er näherte sich dem jungen Weibe und fing gleich, ohne sie zu grüßen, ein Gespräch mit ihr an. Sie schwang ihren Regenschirm schneller und drehte sich halb auf den Absätzen um. Als er auf sie einsprach, lachte sie einoder zweimal und neigte den Kopf.

 

Lenehan beobachtete sie einige Minuten. Dann ging er schnell in einiger Entfernung von den Ketten weiter und kreuzte schräg die Straße. Als er sich der Ecke der Hume Street näherte, schlug ihm schwerer Duft entgegen, und seine Augen sahen forschend, ängstlich und schnell das junge Weib an.

Sie trug ihr Sonntagskleid. Ein schwarzer Ledergürtel hielt ihren blauen Sergerock in der Taille. Die große, silberne Schnalle ihres Gürtels schien die Mitte ihres Leibes einzudrücken und hielt wie eine Klemme den leichten Stoff ihrer weißen Bluse. Sie trug ein kurzes, schwarzes Jackett mit Perlmutterknöpfen und eine schäbige, schwarze Boa.

 

Die Enden ihrer Tüllkrause waren sorgfältig aufgeplustert, und an ihrem Busen prangte, mit den Stengeln nach oben, ein großer Busch roter Blumen. Lenehans Augen sahen beifällig ihren starken, kurzen, muskulösen Körper. Frische, robuste Gesundheit glühte in ihrem Gesicht, auf ihren fetten, roten Backen und in ihren frechen, blauen Augen. Ihre Gesichtszüge waren grob.

Sie hatte breite Nasenlöcher, einen breiten Mund, den zufriedenes Lächeln öffnete, und zwei vorstehende Schneidezähne. Als Lenehan vorbeiging, zog er die Kappe, und nach ungefähr zehn Sekunden erwiderte Corley einen Gruß in die Luft.

Dieses tat er, indem er kaum die Hand hob und nachdenklich den Winkel der Stellung seines Hutes veränderte. Lenehan ging bis an das Shelbourne Hôtel, dort blieb er stehen und wartete. Nach kurzer Zeit sah er sie auf sich zukommen, und als sich die beiden nach rechts wandten, folgte er ihnen und schlich sich in seinen weißen Schuhen leicht auf der einen Seite des Merrion Square weiter, wobei er seinen Schritt nach dem ihren richtete.

Er beobachtete Corleys Kopf, der sich jeden Augenblick dem Gesicht des jungen Weibes zuwandte und an eine dicke Kugel erinnerte, die sich auf einem Pfahl dreht. Er behielt das Paar im Auge, bis er gesehen hatte, daß sie die Stufen zur Donnybrook Tram hinaufgingen; dann drehte er um und ging den Weg, den er gekommen war, zurück.

 

Als er jetzt allein war, sah sein Gesicht älter aus. Seine Heiterkeit schien ihn zu verlassen, und als er am Gitter des Duke’s Lawn vorbeikam, ließ er seine Hand an ihm entlang gleiten. Die Melodie, die der Harfner gespielt hatte, bestimmte seine Bewegungen. Seine leicht beschuhten Füße traten den Takt, während seine Finger nach jeder Gruppe von Tönen müßig eine Skala von Variationen am Geländer ausführten. Gleichgültig ging er um Stephen’s Green und dann die Grafton Street hinunter.

Wenn seine Augen auch viele Einzelheiten in der Menge, durch die er ging, bemerkten, taten sie das doch nur mürrisch. Alles, was ihn hätte erfreuen sollen, kam ihm trivial vor, und er reagierte nicht auf die Blicke, die ihn zum Zupacken aufforderten. Er wußte, daß er doch nur sehr viel sprechen, erfinden und belustigen müßte, und sein Gehirn und seine Kehle waren für eine solche Aufgabe zu trocken. Das Problem, wie er die Stunden verbringen könnte, bis er Corley wieder traf, machte ihm einige Sorgen. Weitergehen schien ihm die einzige Möglichkeit, sie zu verbringen.

Als er an die Ecke des Ruthland Square kam, wandte er sich nach links und fühlte sich in der dunklen, ruhigen Straße, deren düsteres Aussehen zu seiner Stimmung paßte, behaglicher. Schließlich blieb er vor dem Fenster eines ärmlich aussehenden Lokals stehen, über dem in weißen Buchstaben die Worte Erfrischungs-Raum standen. Hinter der Scheibe hingen zwei Schilder: Ginger Beer und Ginger Ale. Auf einer großen, blauen Schüssel lag ein angeschnittener Schinken und daneben auf einer anderen Schüssel das Segment eines kümmerlichen Plumpuddings.

 

Ernst betrachtete er eine Zeitlang diese Nahrungsmittel und trat dann, nachdem er vorsichtig die Straße auf und ab gesehen hatte, schnell in das Lokal. Er war hungrig, denn außer einigen Biskuits, die er bei zwei mürrischen Kellnern bestellt hatte, hatte er seit der Frühstückszeit nichts mehr gegessen. Er setzte sich an einen ungedeckten Holztisch, zwei Arbeiterinnen und einem Mechaniker gegenüber. Ein schlampiges Mädchen bediente ihn. »Was kostet ein Teller Erbsen?« fragte er.

»Drei halfpence, Herr«, sagte das Mädchen. »Bringen Sie mir einen Teller Erbsen«, sagte er, »und eine Flasche Ginger Beer.« Es sprach roh, wollte so sein feineres Aussehen Lügen strafen, denn nach seinem Eintritt war das Gespräch gleich verstummt. Sein Gesicht war erhitzt. Um natürlich zu erscheinen, schob er die Kappe in den Nacken und stemmte die Ellbogen auf den Tisch. Der Mechaniker und die beiden Arbeiterinnen betrachteten ihn aufmerksam, ehe sie ihre Unterhaltung leise wieder aufnahmen.

 

Die Kellnerin brachte ihm einen Teller mit heißen Erbsen, die mit Pfeffer und Essig gewürzt waren, eine Gabel und sein Ginger Beer. Gierig verschlang er seine Mahlzeit und fand sie so gut, daß er sich das Lokal für später merkte. Als er alle Erbsen gegessen hatte, nahm er einen kleinen Schluck Ginger Beer und dachte dann einige Zeit an Corleys Abenteuer. In seiner Phantasie sah er das Liebespaar über irgendeinen dunklen Weg gehen; er hörte Corleys tiefe Stimme, die kräftige Galanterien sagte, und sah wieder den zufrieden geöffneten Mund des jungen Weibes.

Diese Vision ließ ihn deutlich seine eigene Armut, sowohl der Börse wie des Geistes, empfinden. Er war das Herumlaufen leid, war es leid, den Teufel beim Schwanz zu ziehen, alle Lügen und Intrigen hingen ihm zum Halse heraus. Im November wurde er einunddreißig. Sollte er denn nie einträgliche Arbeit finden? Sollte er nie sein eigenes Heim haben? Er dachte, wie herrlich es wäre, hätte er ein warmes Feuer, an das er sich setzen, einen gedeckten Tisch, an dem er sich niederlassen könnte.

 

Lange genug hatte er mit Freunden und Mädchen das Pflaster getreten. Er wußte, was solche Freunde wert waren: er kannte auch die Mädchen. Erfahrung hatte sein Herz der Welt gegenüber verbittert. Aber noch hatte er nicht alle Hoffnung verloren. Nachdem er gegessen hatte, fühlte er sich wohler als vorher, fühlte sich weniger lebensmüde, weniger im Geiste besiegt. Vielleicht war ihm doch noch vergönnt, in einem gemütlichen Winkel zur Ruhe zu kommen und glücklich zu leben, wenn er nur ein gutes, einfaches Mädchen fände, das über ein bißchen Vermögen verfügte.

Er bezahlte der schlampigen Kellnerin twopence und halfpence und verließ das Lokal, um seine Wanderung wieder aufzunehmen. Er ging durch die Capel Street und weiter in der Richtung auf die City Hall. Dann bog er in die Dame Street. An der Ecke der George’s Street traf er zwei Freunde, blieb stehen und sprach mit ihnen. Er war froh, daß er von seinem Umherwandern ausruhen konnte. Seine Freunde fragten ihn, ob er Corley gesehen hätte und was es Neues gäbe.

 

Er antwortete, er hätte den Tag mit Corley verbracht. Seine Freunde sprachen sehr wenig. Gedankenlos sahen sie hinter einigen Gestalten in der Menge her und machten dann und wann eine kritische Bemerkung. Der eine sagte, vor einer Stunde hätte er Mac in der Westmoreland Street getroffen.

Darauf sagte Lenehan, er wäre am Abend vorher mit Mac bei Egan gewesen. Der junge Mann, der Mac in der Westmoreland Street gesehen hatte, fragte, ob es wahr sei, daß Mac bei einem Billardmatch was gewonnen habe. Davon wußte Lenehan nichts: er erzählte, daß Holohan sie bei Egan freigehalten hätte.

 

Ein Viertel vor zehn verließ er seine Freunde und ging die George’s Street hinauf. Bei den City Markets wandte er sich nach links und ging weiter in die Grafton Street. Die Menge der Mädchen und jungen Männer hatte sich gelichtet, und als er die Straße hinaufging, hörte er viele Gruppen und Paare einander guten Abend sagen. Er ging bis an die Uhr des College of Surgeons: es war gleich zehn.

Schnell ging er an der Nordseite des Green entlang, beeilte sich, weil er fürchtete, Corley würde früher zurückkommen. Als er die Ecke der Merrion Street erreicht hatte, stellte er sich in den Schatten einer Laterne und holte eine der Zigaretten hervor, die er sich aufgehoben hatte, und zündete sie an.

 

Er lehnte sich gehen den Laternenpfahl und sah starr in die Richtung, aus der nach seiner Meinung Corley und das junge Weib kommen mußten. Sein Geist wurde wieder lebendig. Er fragte sich, ob Corley wohl Erfolg gehabt hätte. Er fragte sich, ob er sie schon darum gebeten oder es sich bis zuletzt aufgespart hätte.

Er durchlebte sowohl alle Qual und Angst der Situation seines Freundes als auch der eigenen. Aber der Gedanke an Corleys langsam sich drehenden Kopf beruhigte ihn etwas; er war sicher, daß Corley die Sache fertig brachte. Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß Corley sie vielleicht auf einem andern Wege nach Hause begleitet und ihn einfach versetzt hätte.

 

Seine Augen durchsuchten die Straßen: keine Spur von ihnen. Es war doch sicher eine halbe Stunde her, seit er auf die Uhr des College of Surgeons gesehen hatte. Brachte Corley so was fertig? Er steckte die letzte Zigarette an und fing an, sie nervös zu rauchen. Jedesmal wenn an der fernen Ecke des Square eine Tram hielt, sah er angestrengt hin.

Sie waren sicher einen andern Weg nach Hause gegangen. Das Papier seiner Zigarette platzte, und mit einem Fluch warf er sie auf die Straße. Plötzlich sah er die beiden auf sich zukommen. Er wurde auf einmal ganz froh, blieb dicht an seinem Laternenpfahl stehen und versuchte aus ihrem Gang das Resultat zu erkennen. Sie gingen schnell, das junge Weib machte eilige, kurze Schritte, während Corley mit seinen langen Schritten neben ihr her ging.

 

Sie schienen nicht zu sprechen. Eine Ahnung des Resultates durchzuckte ihn, als würde er mit einem spitzen, scharfen Instrument gestochen. Er wußte, daß Corley keinen Erfolg gehabt hatte: er wußte, daß alles vorbei war. Sie bogen in die Baggor Street, und er ging sofort auf dem andern Trottoir hinter ihnen her. Wenn sie stehenblieben, blieb er auch stehen. Sie sprachen einige Augenblicke, und dann ging das junge Weib die Stufen in den Vorgarten eines Hauses hinunter.

Corley blieb am Rande des Trottoirs in einiger Entfernung von den Stufen stehen. Ein paar Minuten verstrichen. Dann wurde die Flurtür langsam und vorsichtig geöffnet. Eine Frau lief hustend die Stufen hinab. Corley wandte sich um und ging auf sie zu. Seine breite Gestalt verdeckte ein paar Sekunden lang die ihre, und dann sah man sie wieder die Treppe hinaufeilen. Die Tür schloß sich hinter ihr, und Corley ging schnell auf Stephen’s Green zu. Lenehan eilte in derselben Richtung vorwärts. Einige leichte Regentropfen fielen.

 

Er nahm sie als Warnung, sah nach dem Hause zurück, in das die junge Frau gegangen war, um sich zu vergewissern, daß er nicht beobachtet wurde, und lief dann eilig über den Fahrdamm. Er keuchte vor Aufregung und vom schnellen Lauf. Er rief: »Hallo, Corley!« Corley wandte den Kopf, um zu sehen, wer ihn gerufen hatte, und ging weiter wie vorher. Lenehan lief hinter ihm her, schob mit der einen Hand den Waterproof auf die Schulter. »Hallo, Corley!« rief er wieder. Er holte seinen Freund ein und sah ihm forschend ins Gesicht. Er konnte nichts darin sehen.

»Nun?« sagte er. »Hat’s geklappt?« Sie hatten die Ecke des Ely Place erreicht. Aber ohne zu antworten, schwenkte Corley nach links und ging die Seitenstraße hinauf. Sein Gesicht zeigte starre Ruhe. Lenehan ging im gleichen Schritt mit seinem Freunde, atmete schwer Er fühlte sich betrogen, und seine Stimme klang leicht drohend: »Willst du nicht raus damit?« sagte er. »Hat’s nicht gefleckt?«

Corley machte bei der ersten Laterne halt und sah grimmig vor sich nieder. Dann hob er mit ernster Geste eine Hand gegen das Licht und öffnete sie lächelnd langsam dem Bücke seines Jüngers. Eine kleine Goldmünze glänzte in der flachen Hand.

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James Joyce

Geschichte: Zwei Kavaliere

En: Two Gallants

Buch: Dubliner 

en: Dubliners (1914)

Geschichten – Irische Literatur

Volltext ins Deutsche übersetzt

 

James Joyce Zwei Kavaliere (Two Gallants) Englische Originalversion > hier

 

 

James Joyce Alle geschichten > hier

 

 

James Joyce

James Joyce (* 2. Februar 1882 in Rathgar, Dublin, Vereinigtes Königreich Großbritannien und Irland; † 13. Januar 1941 in Zürich) war ein irischer Schriftsteller. James Joyce er gilt als einer der wichtigsten Vertreter der literarischen Moderne, und gilt als einer der besten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, auch wenn seine literarische Produktion nicht sehr groß ist.

 

 

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