ANTON TSCHECHOW Geschichten DER DICKE UND DER DÜNNE Text DE

 

 

 

Anton Tschechow

Der dicke und der dünne

(Ru: Tolstyj i tonkij)

(1833)

 

 

kurze russische Geschichte

Russische Literatur – russische Schriftsteller

Text ins Deutsche übersetzt

 

 

 

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Anton Tschechow

Der Dicke und der Dünne

(Ru: Tolstyj i tonkij)

 

 

Auf einem Bahnhof der Nikolaitischen Eisenbahn begegneten sich zwei Bekannte: der eine war dick, der andere dünn.

Der Dicke aß gerade im Bahnhof zu Mittag und seine ölbeschmierten Lippen glänzten wie reife Kirschen. Ein Duft von Sherry und Fleur d’orange ging von ihm aus.

Der Dünne stieg gerade aus einem Waggon und war vollgepackt mit Koffern, Netzen und Kartons. Ein Geruch nach Schinken und Kaffeesatz ging von ihm aus. Hinter seinem Rücken schaute ein mageres Weib mit langem Unterkinn hervor – seine Frau, und ein hochgeschossener Gymnasiast mit geschürzten Augen – sein Sohn.

 

»Porfirij!«, rief der Dicke aus, als er den Dünnen erblickte. »Bist du’s? Mein Täubchen! Lang, lang ist’s her!«

»Göttchen!«, erstaunte der Dünne. »Mischa! Freund meiner Kindheit! Wo kommst du denn her?«

Die beiden Bekannten küssten sich drei Mal und blickten einander tief in die Augen, die voller Tränen waren. Beide waren angenehm überrascht.

 

 

»Mein Lieber!«, begann der Dünne nach der Küsserei. »Das hätte ich nicht erwartet! Welche Überraschung! Na, lass mich dich mal genauer anschaun! Noch derselbe schöne Kerl wie früher! Noch derselbe Herzensbrecher und Modenarr! Ach, mein Göttchen! Und, was machst du? Reich? Verheiratet? Ich bin auch verheiratet, wie du siehst … Dies ist meine Frau, Luise, eine geborene Wanzenbach … eine Protestantin … Und dies ist mein Sohn Nathanael, er ist schon in der dritten Klasse … Das, Nathanchen, ist der Freund meiner Kindheit! Wir waren zusammen auf dem Gymnasium!«

Nathanael dachte kurz nach und zog seine Mütze.

 

»Wir waren zusammen auf dem Gymnasium!«, setzte der Dünne fort. »Weißt du noch, womit sie dich aufzogen? Dich neckte man mit Herostrat, weil du das Klassenbuch mit einer Zigarette angezündet hattest und mich mit Ephialt, weil ich so gern petzte … Ho-ho … Wir waren noch Kinder! Keine Angst, Nathanchen! Tritt ruhig näher an ihn heran … Und dies ist meine Frau, eine geborene Wanzenbach … eine Protestantin.«

Nathanael dachte kurz nach und verbarg sich dann im Rücken seines Vaters.

 

 

»Na, und wie geht’s dir?«, fragte der Dicke, begeistert auf seinen Freund blickend. »Wo dienst du denn? Hast du dich schon hochgedient?«

»Ja, ich diene, mein Lieber! Ich bin schon im zweiten Jahr Kollegienassessor und trage den Stanislavorden. Die Bezahlung ist schlecht … Na, zum Teufel damit! Meine Frau gibt Musikunterricht, und ich schnitze nebenbei aus Holz Zigarrenfutterale. Die Futterale sind großartig! Ich verkaufe sie für einen Rubel das Stück. Wenn einer ein Dutzend oder mehr abnimmt, dann gibt’s Rabatt, verstehst du. Wir kommen so durch. Ich war, weißt du, in der Ministerialabteilung tätig und wurde jetzt hierher als Vorsitzender in dieselbe Einrichtung versetzt … Ich werde jetzt hier arbeiten. Na, und du? Du bist wohl schon Staatsrat? Na?«

»Nein, mein Lieber, greif mal etwas höher hinauf«, sagte der Dicke. »Ich habe mich schon zum Geheimrat hochgearbeitet … Ich trage zwei Ordenssterne.«

 

 

Der Dünne erblasste plötzlich, erstarrte, doch sein Gesicht erstrahlte schon bald mit dem breitesten Lächeln über alle Backen; es schien, dass von seinem Gesicht und seinen Augen Funken sprühten. Er selber krümmte sich zusammen, beugte den Rücken, machte sich kleiner … Seine Koffer, Netze und Kartons krümmten sich zusammen, zeigten sich verknittert … Das lange Unterkinn seiner Frau wurde noch länger; Nathanael ging in Habachtstellung und schloss alle Knöpfe seiner Uniform …

»Ich, euer Exzellenz … Sehr angenehm, mein Herr! Ein Freund, sag ich mal, der Kindheit und plötzlich wurden sie zu solch einem Adelsherrn! Hi-hi, mein Herr.«

»Nun aber genug!«, ärgerte sich der Dicke. »Wozu denn dieser Ton. Wir beide sind Freunde aus der Kindheit – was sollen hier diese Ehrbezeugungen.«

 

 

»Was fällt ihnen ein … Wo denken sie hin, mein Herr«, kicherte der Dünne noch stärker zusammengekrümmt. »Die liebenswürdige Aufmerksamkeit eurer Exzellenz … gleichet einer belebenden Wonne … Dieses hier, euer Exzellenz, ist mein Sohn Nathanael … meine Frau Luise, eine Protestantin, in gewisser Weise …«

 

Der Dicke wollte etwas entgegnen, doch dem Dünnen standen so viel Ehrfurcht, süßes Hochgefühl und saure Ehrerbietung ins Gesicht geschrieben, dass es den Geheimrat anekelte. Er drehte sich vom Dünnen weg und reichte ihm zum Abschied die Hand.

 

Der Dünne drückte drei Finger, machte eine tiefe Verbeugung und kicherte wie ein Chinese: »Hi-hi-hi«. Seine Frau lächelte. Nathanael machte einen Kratzfuß und zog seine Uniformmütze. Alle drei waren angenehm überrascht.

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Anton Tschechow – Der Dicke und der Dünne

(Ru: Tolstyj i tonkij, 1833) russische Geschichte

Russische Literatur – russische Schriftsteller

Text ins Deutsche übersetzt

 

 

 

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