NIKOLAI GOGOL DER MANTEL Kurzgeschichte Deutsche übersetzt

 

 

 

Nikolai Gogol

Der Mantel

 

Kurzgeschichte russischer

Russische literatur

 

 

kurze einführung

 

Der Mantel ist der Titel einer 1842 erschienenen Novelle von Nikolai Gogol. Sie gehört zu den Petersburger Novellen.

Gogols Novelle “Der Mantel” übte einen großen Einfluss auf die russische Literatur aus.
Dostojewski verarbeitet das Motiv des „armen Beamten“ unter anderem in seinen beiden Erstlingswerken Arme Leute und Der Doppelgänger.

 

Unten ist der Text der Kurzgeschichte Russischer von Nikolai Gogol: “Der Mantel” mit ins Deutsche übersetztem Text.

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Weiter unten das komplette Hörbuch Deutsch der Kurzgeschichte “Der Mantel” von Nicolaj Gogol.

Gutes Lektüre und/oder gutes hören!

 

 

 

Nikolai Gogol

Der Mantel

 

Kurzgeschichte Russischer

Text ins Deutsche übersetzt

 

 

 

In einer russischen Ministerialabteilung… Aber es ist wohl besser, ich sage nicht, in welcher Ministerialabteilung es war. Es gibt in Rußland kein empfindlicheres Menschengeschlecht als das der Ministerial-, Regiments- und Kanzleibeamten – kurz alles dessen, was man unter der Bezeichnung »Beamte« zusammenfaßt. Jeder glaubt, wenn er irgendwie gekränkt wird, die ganze Klasse sei in seiner Person beleidigt.

 

Kürzlich soll ein Isprawnik – ich weiß nicht mehr, in welcher Stadt – einen Bericht verfaßt haben, der den Zweck hatte zu beweisen, daß die Erlasse der Regierung nicht mehr befolgt würden, daß man es sogar wage, den heiligen Titel Isprawnik in verächtlichem Sinne auszusprechen; und zur Begründung seiner Behauptungen legte er seinem Bericht einen ungeheuren Folianten bei, der eine Art Roman enthielt, in dem auf jeder zehnten Seite ein Isprawnik vorkam – stellenweise sogar in vollständig betrunkenem Zustande.

 

Um daher von vornherein allen etwaigen Reklamationen einen Riegel vorzuschieben, will ich lieber die Ministerialabteilung, die der Schauplatz meiner Geschichte ist, nicht mit unzweifelhafter Deutlichkeit angeben und vorsichtshalber sagen: »In einer gewissen Kanzlei.«

Also in einer gewissen Kanzlei war »ein gewisser Mann« angestellt, ein Beamter, von, ich kann es nicht verhehlen, von ziemlich unscheinbarem Äußeren. Er war von kleiner Statur, sein Gesicht war ein wenig pockennarbig, das Haar ein wenig rot, an der Stirn ziemlich weit zurückgewachsen, beide Schläfen und Wangen waren von Runzeln durchfurcht – von anderen Unvollkommenheiten zu schweigen … So das äußere Bild unseres Helden,

wie es das Petersburger Klima zugerichtet hat.

 

 

Was seinen Beamtenrang anging – denn bei uns muß man vor allen Dingen den Beamtenrang angeben – so war er, was man einen ewigen Titularrat zu nennen pflegt, eines jener unglücklichen Wesen, über das, wie männglich bekannt, sich verschiedene Schriftsteller lustig machen, welche die schlechte Gewohnheit haben, Leute anzugreifen, die sich nicht verteidigen können.

 

Der Name unseres Helden war Baschmatschkin; sein Tauf- und Vatersname Akaki Akakjewitsch.

Vielleicht findet der Leser diese Namen ein wenig seltsam und gesucht, aber er kann versichert sein, daß ich sie durchaus nicht gesucht habe, und daß die Umstände es so gefügt, daß es gar nicht möglich war, ihm andere Namen zu geben.

Das ging folgendermaßen zu:

Akaki Akakjewitsch kam, wenn mein Gedächtnis mich nicht irreführt, in der Nacht auf den dreiundzwanzigsten März zur Welt. Seine selige Mutter, die Frau eines Beamten und zugleich ein sehr gutes Weib, traf, wie sich’s gehört, sofort Anstalt, ihr Söhnchen taufen zu lassen. Die Mutter hütete noch das der Tür gegenüber aufgestellte Bett. Zu ihrer Rechten stand der Pate, Iwan Iwanowitsch Jeroschkin, eine sehr bedeutende Persönlichkeit, der beim Senat Registrator war, zu ihrer Linken die Patin, Arina Semenowna Bjellobruschkoff mit Namen, die Frau eines Polizeiinspektors, eine Dame von seltenen Tugenden.

 

Der Wöchnerin wurden drei Namen zur beliebigen Auswahl für den Täufling vorgeschlagen: Mokius, Kokius und Chosdasatius.

 

»Nein«, sagte die Wöchnerin, »solche Namen gefallen mir nicht.«

Um ihren Wünschen entgegenzukommen, wurde der Kalender auf einer anderen Seite aufgeschlagen, und zum Vorschein kamen die zwei Namen Trifili und Warachatus.

»Das ist ja wie eine Strafe Gottes«, meinte die Mutter; »was sind das alles für Namen! Niemals in meinem Leben habe ich sie gehört. Wär’s noch Waradat oder Waruch; aber Trifili und Warachatus!«

Abermals wurde der Kalender aufgeschlagen – da standen: Pawsikachi und Wachtissi.

»Nun, ich sehe«, sagte die Mutter, »das ist offenbar Schicksal. Wenn’s gar nicht anders geht, dann mag er den Namen seines Vaters bekommen. Sein Vater heißt Akaki – mag der Sohn meinetwegen auch Akaki heißen.«

Auf diese Weise kamen die Namen Akaki Akakjewitsch zustande.

Das Kind wurde getauft, wobei es weinte und schrie und allerlei Grimassen machte, als hätte es vorausgefühlt, daß es eines Tages Titularrat werden würde.

Wir haben dies alles so gewissenhaft erzählt, damit[5] der Leser sich selbst überzeugen sollte, daß es gar nicht anders zugehen und der kleine Akaki einen andern Namen gar nicht erhalten konnte.

 

Zu welcher Zeit Akaki Akakjewitsch in die Kanzlei eintrat, und wer ihm zu seiner Stelle verhalf, dessen vermag sich kein Mensch mehr zu entsinnen. Wie viele Vorgesetzte aller Art sich auch ablösten, alle sahen ihn auf ein und demselben Platze, in derselben Haltung, mit derselben Arbeit beschäftigt, mit demselben Titel, so daß man glauben mußte, er sei ganz so, wie er war, mit den enthaarten Schläfen und seiner Beamtenuniform zur Welt gekommen.

 

In der Kanzlei, in der er beschäftigt war, wurde ihm keinerlei Rücksicht zuteil. Nicht einmal die Bürodiener standen von ihren Stühlen auf, wenn er eintrat, ja sie sahen ihn nicht einmal an – sie achteten seiner ebensowenig, als wäre eine Fliege durchs Empfangszimmer geflogen. Seine Vorgesetzten behandelten ihn mit kaltem Despotismus. Der Gehilfe des Bürochefs sagte, wenn er ihm einen Berg von Papieren vor die Nase warf, nicht einmal: »Bitte, schreiben Sie das ab«, oder: »Das ist etwas Interessantes – eine recht hübsche Arbeit«, oder sonst ein angenehmes Wort, wie es bei Beamten üblich ist, die eine gute Erziehung genossen haben.

 

Aber Akaki nahm die Akten; er sah gar nicht darauf, ob man ein Recht hatte, sie ihm zu übergeben oder nicht; er nahm sie und begann sofort mit dem Abschreiben.

Seine jungen Kollegen machten ihn zum Gegenstand ihres Gespötts und ihrer klassischen Witze – soweit man bei Beamten und namentlich bei Kanzleibeamten von Witz überhaupt reden darf. Bald erzählten sie sich in seiner Gegenwart verschiedene erfundene Geschichten über seine Lebensweise und seine Wirtin, eine siebzigjährige Alte; sie behaupteten,[6] sie prügele ihn, und erkundigten sich bei Akaki, wann er mit ihr vor den Traualtar treten würde; bald ließen sie Papierfetzen auf sein Haupt herabregnen und riefen ihm zu, es seien Schneeflocken.

Aber Akaki Akakjewitsch hatte nie ein Wort der Erwiderung auf all diese Attacken; es war, als wäre überhaupt niemand um ihn. Ja selbst auf die Beschaffenheit seiner Arbeit übte das alles keinen Einfluß; trotz all dieser Ablenkungen machte er keinen einzigen Schreibfehler. Nur wenn der Spaß unerträglich wurde, wenn er beim Arm gefaßt und so am Schreiben verhindert wurde, dann sagte er: »Lassen Sie mich doch! Warum wollen Sie mich kränken?«

 

Und es lag etwas eigentümlich Rührendes in diesen Worten und in der Art, wie er sie aussprach.

Eines Tages begab es sich, daß, als ein erst vor kurzem in der Kanzlei angestellter junger Mensch, von dem Beispiel der andern angestachelt, seinen Witz ebenfalls an ihm üben wollte, dieser plötzlich beim Klang von Akakis Stimme wie angewurzelt dastand und den alten Beamten von diesem Augenblick an mit ganz anderen Augen ansah. Es war ihm, als ob eine übernatürliche Macht ihn von seinen Kollegen, die er hier kennengelernt und die er für wohlerzogene, anständige Leute gehalten, fortziehe und ihm einen Widerwillen gegen sie einflöße. Und noch lange nachher, in glücklichsten Augenblicken, sah er das Bild des armen kleinen Titularrats mit der kahlen Stirn vor sich, und noch immer tönten ihm die Worte im Ohr: »Lassen Sie mich doch! Warum kränken Sie mich?«

 

Und aus diesen Worten hörte er noch andere heraus – die Worte: »Bin ich nicht euer Bruder?«

Und da verbarg der junge Mann das Gesicht in den Händen, oftmals überkam ihn ein Schauer bei dem Gedanken, wieviel Unbarmherzigkeit im Menschen steckt, wieviel Roheit in der verfeinerten gebildeten Gesellschaft, sogar in solchen Menschen, die in der Welt als edel und ehrenhaft gelten.

Nirgends war ein Beamter zu finden, der so seiner Pflicht lebte wie Akaki Akakjewitsch. Was sage ich – er arbeitete mit Liebe, mit Leidenschaft. Wenn er amtliche Schriftstücke kopierte, so sah er eine schöne bunte Welt vor sich erstehen. Der Genuß, den ihm das Abschreiben gewährte, war auf seinem Gesicht zu lesen. Gewisse Buchstaben malte er mit besonderem Vergnügen; wenn er an die betreffende Stelle kam, so war er ein ganz anderer; er begann zu lächeln, blinzelte mit den Augen, kniff die Lippen zusammen, so daß die Leute, die ihn kannten, auf seinem Gesicht lesen konnten, an welchem Buchstaben er gerade arbeitete.

 

Wäre er nach seinem Eifer bezahlt worden, so würde er – zu seinem eigenen Erstaunen – vielleicht zum Range eines Staatsrats erhoben worden sein. Allein er durfte, wie seine Kollegen sich ausdrückten, kein Kreuz im Knopfloch tragen und sich durch seinen Diensteifer nur Hämorrhoiden zuziehen.

Übrigens muß ich erwähnen, daß er einmal eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Ein Direktor, der ein braver Mensch war und ihn für seine langen Dienste belohnen wollte, befahl, ihm eine Arbeit anzuvertrauen, die wichtiger war als die Aktenstücke, die er gewöhnlich zu kopieren hatte. Diese neue Arbeit bestand darin, irgendeinen Bericht an eine Gerichtsbehörde vorzubereiten, die Titel verschiedener Akten abzuändern und hin und wieder das Fürwort der ersten Person durch das der dritten zu ersetzen.

 

Akaki unterzog sich seiner Aufgabe. Aber sie verwirrte und ermüdete ihn derart, daß ihm der Schweiß von der Stirn floß und er endlich ausrief: »Nein, gebt mir lieber wieder etwas abzuschreiben.«

 

Und von diesem Augenblick an ließ man ihn bis an sein Lebensende abschreiben.

Außer seinen Kopien schien es für ihn nichts auf der Welt zu geben. Er dachte nicht einmal an seine Kleidung. Seine Uniform, die ursprünglich grün war, hatte eine rötliche Farbe angenommen. Seine Halsbinde war so eng und so zusammengeschrumpft, daß sein Hals, obgleich er durchaus nicht lang war, weit aus dem Kragen herausragte und ungewöhnlich lang erschien – just wie bei den Gipskatzen mit beweglichen Köpfen, die Händler in den russischen Dörfern umhertragen, um sie an die Bauern abzusetzen.

 

Und immer heftete sich irgendein Gegenstand an seine Kleidung; bald ein Stückchen Faden, bald das herumflatternde Fragment eines Strohhalms. Zudem hatte er eine eigentümliche Vorliebe dafür, just in dem Augenblick, da irgendein nicht ganz sauberer Gegenstand auf die Straße geworfen wurde, unter den betreffenden Fenstern vorüberzugehen, und darum trug er stets auf seinem Haupte Melonenschalen und ähnliche Abfälle. Niemals in seinem Leben hatte er dem Beachtung geschenkt, was sich täglich auf den Straßen regt und bewegt, und auf das, wie bekannt, seine Kollegen mit so scharfen Blicken achten, daß sie es sofort bemerken, wenn auf dem andern Bürgersteig ein Sterblicher mit zerrissenen Beinkleidern vorüberwandert – ein Schauspiel, das ihnen stets ein besonderes Vergnügen bereitet.

 

Akaki Akakjewitsch sah immer nur die sauberen, gleichmäßigen Linien seiner Kopien vor sich, und nur wenn er plötzlich an die Schnauze eines Pferdes stieß, das ihm durch die Nüstern seinen geräuschvollen Atem ins Gesicht blies, bemerkte der Wackere erst, daß er sich nicht an seinem Schreibtisch inmitten seiner schönen Abschriften befand, sondern mitten auf der Straße.

 

 

Zu Hause angelangt, setzte er sich sofort zu Tisch, verzehrte in aller Eile seine Kohlsuppe und aß dann, ohne irgendwie auf den Geschmack zu achten, ein Stück Rindfleisch mit Knoblauch; er verzehrte es nebst den Fliegen und all den Dingen, womit Gott und der Zufall es bestreut hatten. War sein Hunger gestillt, dann setzte er sich sofort an den Tisch und begann die Akten abzuschreiben, die er mit nach Hause genommen hatte. Waren zufällig keine amtlichen Schriftstücke zu kopieren, so schrieb er zu seinem eigenen Vergnügen die Akten ab, denen er eine besondere Wichtigkeit beilegte – nicht wegen ihrer mehr oder minder schönen Fassung, sondern weil sie an irgendeine hohe Persönlichkeit gerichtet waren.

 

Wenn der graue Petersburger Himmel in den Schleier der Nacht gehüllt ist und das ganze Beamtenvolk sein Mittagsmahl je nach den gastronomischen Neigungen oder nach der Schwere der Börse beendet hat – wenn alles sich erholt von dem Gekritzel der bürokratischen Federn, von all den Sorgen und Geschäften, die der Mensch sich oft unnützerweise auferlegt, so will ein jeder den Rest des Tages seinem persönlichen Vergnügen widmen. Dieser geht ins Theater, jener wandert auf den Straßen umher und macht sich ein Vergnügen daraus, die Toiletten zu betrachten; wieder ein anderer girrt einem jungen Mädchen, das wie ein Stern in seinem bescheidenen Beamtenkreise auftaucht, ein paar schmeichelhafte gefühlvolle Worte zu. Da und dort macht auch einer einem Kollegen einen Besuch, im dritten oder vierten Stock, in dessen einfacher, aus zwei Stuben nebst Vorraum und Küche bestehenden Wohnung, die mit einer anspruchsvollen Ausstattung geschmückt ist, zum Beispiel einer Lampe und irgendeinem anderen, nach langen Entbehrungen gekauften Gegenstande.

 

 

Kurz, um diese Zeit widmet sich jeder Beamte auf diese oder jene Weise dem Vergnügen; hier wird Whist gespielt, dort Tee mit billigem Backwerk genossen oder Tabak aus langen Pfeifen geraucht. Die einen erzählen sich Skandalgeschichten aus den vornehmen Kreisen, denn in welchen Lebenslagen der Russe sich auch befinden mag, von der vornehmen Welt vermag er seine Gedanken nie abzulenken; andere geben uralte, aber immer noch beliebte Anekdoten zum besten, wie zum Beispiel die von dem Kommandanten, dem gemeldet wird, ein Übeltäter habe dem Pferde auf dem Denkmale Peters des Großen den Schwanz abgeschnitten.

Also auch in diesen Stunden der Erholung und der Vergnügungen blieb Akaki Akakjewitsch seinen Gewohnheiten treu. Niemand vermochte zu sagen, daß er ihn irgendeinmal in einer Abendgesellschaft gesehen habe. Wenn er sich satt geschrieben, legte er sich zu Bett und dachte an die Freuden des folgenden Tages, an die schönen Kopien, die der liebe Gott ihm morgen anvertrauen würde.

 

 

So floß das friedliche Dasein eines Menschen dahin, der bei seinen vierhundert Rubeln Gehalt mit seinem Geschick vollkommen zufrieden war; und er hätte vielleicht ein hohes Alter erreichen können, wenn ihn nicht einer jener unglücklichen Zwischenfälle betroffen hätte, die nicht bloß die Titular-, sondern auch die Geheimen, Wirklichen, Hof- und andern Räte bedrohen, selbst diejenigen nicht ausgeschlossen, die niemals einen Rat erteilen oder empfangen.

 

In Petersburg haben alle, die nur ein Jahresgehalt von vierhundert Rubeln oder da herum beziehen, einen furchtbaren Feind; und dieser furchtbare Feind ist unsere nordische Kälte, wenn auch behauptet wird, sie sei der Gesundheit sehr zuträglich.

 

Gegen neun Uhr morgens, wenn die Beamten der verschiedenen Abteilungen sich in ihre Büros begeben, zwickt ihnen die Kälte so lebhaft die Nase, daß die meisten von ihnen sich nicht zu helfen wissen. Wenn in diesem Augenblick die hohen Würdenträger in eigner Person derart unter der Strenge der Kälte leiden, daß ihnen die Tränen in die Augen treten – wie müssen erst die Titularräte leiden, denen es ihre Mittel nicht erlauben, sich gegen den strengen Winter zu schützen. Haben sie sich in ihre leichten Mäntel gehüllt, so gilt es, in aller Hast fünf, sechs Straßen zu durcheilen, dann bei dem Portier haltzumachen, um sich zu erwärmen und zu warten, bis ihre bürokratischen Fähigkeiten wieder auftauen.

 

 

Seit einiger Zeit empfand Akaki im Rücken und an den Schultern sehr scharfe Stiche, obgleich er den Weg von seiner Wohnung bis zu seinem Büro mit aller Macht laufend zurücklegte. Nachdem er die Sache wohl überlegt, gelangte er endlich zu dem Resultat, daß sein Mantel an einer gewissen Unvollkommenheit leiden müsse. Wieder in seinem Zimmer angekommen, untersuchte er ihn sorgfältig und bemerkte, daß der geliebte Stoff an zwei drei Stellen sich so sehr verdünnt hatte, daß er geradezu durchsichtig geworden und daß das Futter zerrissen war.

 

Dieser Mantel war seit langer Zeit der beständige Gegenstand von Stichelreden für die unerbittlichen Kollegen Akakis. Sie hatten ihm sogar den edlen Namen Mantel geraubt und ihn Kapuze getauft. Allerdings sah dies Kleidungsstück seltsam genug aus. Jahr für Jahr war der Kragen verkleinert worden, denn Jahr für Jahr hatte der arme Titularrat ein Stück davon abgenommen, um den Mantel an einer andern Stelle damit auszubessern; und diese Ausbesserungen verrieten nicht die geübte Hand eines Schneiders; sie waren in sehr plumper Weise gemacht und nahmen sich überaus häßlich aus.

 

 

Nachdem Akaki Akakjewitsch seine betrübende Untersuchung beendet, sagte er sich, daß er seinen Mantel unbedingt zu Petrowitsch, dem Schneider, bringen müßte, der hoch oben im vierten Stock, in einer finstern Klause wohnte.

 

Mit seinem schielenden Blick und dem pockennarbigen Gesicht sah Petrowitsch durchaus nicht danach aus, als hätte er die Ehre, Fracks und Beinkleider für hohe Beamte zu machen, wenn er sich in nüchternem Zustande befand und sich nicht süßeren Beschäftigungen hingab.

 

Ich könnte es mir versagen, hier von diesem Schneider zu reden. Allein, da es einmal so Brauch ist, daß jede in einer Erzählung vorkommende Persönlichkeit mit der ihr eigenen Physiognomie vorgestellt wird, so muß ich wohl oder übel Petrowitsch schildern. Ehedem, als er noch in dem Hause seines Herrn als Leibeigener fungierte, hieß er einfach Gregor. Als er frei wurde, glaubte er sich mit einem neuen Namen schmücken zu müssen; zugleich begann er tapfer zu trinken, anfangs nur an den hohen Festtagen, dann allmählich an allen Festtagen, die im Kalender durch ein Kreuz bezeichnet sind. Durch diese feierliche Begehung der von der Kirche geweihten Tage glaubte er den Sitten seiner Kindheit treu zu bleiben; und wenn er seine Frau auszankte, so schrie er, sie sei ein weltliches Geschöpf und eine Deutsche. Von dieser Frau haben wir weiter nichts zu berichten, als daß sie des Petrowitsch Frau war, und daß sie kein Tuch, sondern eine Haube auf dem Kopfe trug. Im übrigen war sie nicht hübsch, nur die Soldaten sahen sie im Vorübergehen an, und dann drehten sie sich den Schnurrbart und gingen lachend weiter.

 

Akaki Akakjewitsch wandte sich also der Dachstube des Schneiders zu. Er erreichte sie über eine schwarze, schmutzige, feuchte Treppe, die wie alle von dem gewöhnlichen Volk in Petersburg bewohnten Häuser jene Spiritusdünste ausströmte, die zugleich die Nase und die Augen verletzen.

Während der Titularrat die glitschigen Stufen hinaufkletterte, berechnete er sich, was Petrowitsch für die Reparatur seines Mantels verlangen könnte, und nahm sich vor, ihm nur einen Rubel zu geben.

 

Die Wohnungstür des Handwerkers stand offen, um den Rauchwirbeln einen Ausgang zu verschaffen, die aus der Küche drangen, wo des Petrowitsch Frau Fische briet. Akaki schritt, die Blicke von dem Rauch getrübt, durch die Küche, ohne daß die Frau ihn sah, und trat in das Zimmer, in dem der Schneider auf einem großen hölzernen, roh zugehauenen Tische saß, die Beine wie ein türkischer Pascha gekreuzt und, wie das bei den meisten Schneidern üblich, mit nackten Füßen.

 

Was zunächst die Aufmerksamkeit erregte, wenn man sich ihm näherte, war der Nagel des Daumens, der ein wenig verstümmelt, aber hart und starr wie eine Schildkrötenschale war. Um den Hals trug er mehrere Fitzen Seide und Zwirn, und auf den Knien hatte er einen zerlumpten Rock. Seit einigen Minuten mühte er sich ab, eine Nadel einzufädeln, was ihm jedoch nicht glücken wollte. Erst war er auf die Dunkelheit wütend geworden, dann auf den Faden.

»Willst du denn gar nicht hinein, du langweilst mich!« rief er.

 

Akaki bemerkte sofort, daß er zu ungelegener Zeit gekommen. Gern hätte er sich Petrowitsch in einem günstigen Augenblick vorgestellt, wenn er sich eine neue Erfrischung gönnte – wenn er, wie seine Frau es nannte, sich eine solide Ration Branntwein nahm. Dann ging der Schneider mit außerordentlicher Herablassung auf die Vorschläge seines Kunden ein, verbeugte sich vor ihm und dankte ihm noch. Manchmal allerdings mischte sich die Frau in die Verhandlung und schrie, er sei betrunken und verspreche, die Arbeit zu einem viel zu niedrigen Preise zu machen.

Aber wurde dann eine Kleinigkeit zugelegt, so war die Sache erledigt.

 

Zu des Titularrats Unglück hatte Petrowitsch in diesem Augenblick die Flasche noch nicht angerührt, und in solchen Momenten war er hart, querköpfig und fähig, einen erschreckenden Preis zu verlangen.

 

Akaki sah diese Gefahr voraus und wäre gerne wieder umgekehrt; allein es war bereits zu spät, das Auge des Schneiders – sein einziges Auge, denn er war einäugig – hatte ihn schon bemerkt, und Akaki Akakjewitsch murmelte unwillkürlich:

»Guten Tag, Petrowitsch.«

»Willkommen, Herr«, antwortete der Schneider und richtete den Blick auf des Titularrats Hand, um zu sehen, was er darin hätte.

»Ich komme eben … bloß … um … ich möchte –«

Wir müssen hier bemerken, daß der schüchterne Titularrat in der Regel, um seine Gedanken auszudrücken, nur Präpositionen, Adverbien oder Partikeln gebrauchte, die niemals einen bestimmten Sinn ergaben.

War die Angelegenheit, um die es sich handelte, schwieriger Natur, dann konnte er den begonnenen Satz niemals beenden. So begegnete es ihm, daß er sich bei seinen Verhandlungen in die Formeln verstrickte: ja – es ist zwar wahr, daß –

 

 

Dabei blieb er stecken und vergaß, was er sagen wollte, oder glaubte, es gesagt zu haben.

»Was wünschen Sie, Herr?« fragte Petrowitsch, ihn mit einem forschenden Blick von oben bis unten messend, und Kragen, Ärmel, Taille, Knöpfe, kurz Akakis ganze Uniform betrachtend, obgleich er sie sehr wohl kannte, da er sie selbst gemacht hatte. Die Schneider haben nun einmal die Gewohnheit, fremde Kleidungsstücke in dieser Weise zu betrachten. Das ist ihr erster Gedanke, wenn sie einem Bekannten begegnen.

 

Da antwortete Akaki, wie gewöhnlich stotternd:

»Ich möchte … Petrowitsch … dieser Mantel … sehen Sie … aber übrigens ist er noch ganz gut, nur daß er ein wenig staubig … und darum sieht er ein wenig alt aus. Er ist jedoch noch ganz neu … nur da so ein wenig abgeschlissen … da im Rücken und dann hier an der Schulter … zwei, drei ganz kleine Risse. Du siehst, gar nicht der Rede wert, in ein paar Minuten hast du das vollständig wieder ausgebessert.«

 

Petrowitsch nahm den unglücklichen Mantel, breitete ihn über den Tisch, betrachtete ihn schweigend und schüttelte das Haupt. Dann streckte er die Hand zum Fenster aus nach seiner Tabaksdose, einer runden, mit dem Bildnis eines Generals geschmückten Tabaksdose – ich weiß übrigens nicht, welches Generals, denn die Stelle, wo das Gesicht gewesen, war mit dem Finger durchbohrt und danach mit einem viereckigen Stückchen Papier verklebt worden.

Nachdem Petrowitsch eine Prise genommen, betrachtete er die Kapuze von neuem, hielt sie ans Licht und schüttelte abermals den Kopf. Dann untersuchte er das Futter, hob zum zweitenmal den Deckel seiner ehedem mit dem Antlitz des Generals geschmückten Tabaksdose auf, nahm eine zweite Prise und rief endlich aus: »Nein, daran ist gar nichts mehr auszubessern. Ein ganz miserabler Lappen!«

 

Bei diesen Worten sank Akaki der Mut.

»Wieso denn?« fragte er in dem klagenden Ton eines Kindes, »ist denn dieses Loch gar nicht mehr auszubessern? Schau doch nur, Petrowitsch; du siehst ja, nur ein paar Risse, und du hast doch Lappen genug, um das wieder zuzunähen.«

»Ja, Lappen genug habe ich schon, aber wie soll ich sie draufnähen? Das Tuch ist abgetragen, es hält keinen Stich mehr.«

»Na, wo der Stich nicht hält, da setzest du einen neuen Lappen auf.«

»Da hilft gar kein Lappen mehr; Tuch ist doch schließlich Tuch, und in diesem Zustande vermag schon ein Windstoß diesen jämmerlichen Mantel in Fetzen zu reißen.«

»Aber wenn du ihn etwas dauerhafter machtest, siehst du – – wirklich – –«

»Nein«, antwortete Petrowitsch in bestimmtem Ton, »da ist nichts mehr zu machen, der Stoff ist vollständig abgenutzt. Da wär’s schon besser, Sie machten sich im Winter Fußlappen daraus; die halten wärmer als Strümpfe. Die Deutschen haben die Strümpfe nur erfunden, um viel Geld zu verdienen.«

Petrowitsch ließ nie eine Gelegenheit vorübergehen, ohne den Deutschen einen Hieb zu versetzen.

»Sie müssen sich unbedingt einen neuen Mantel anschaffen«, fügte er hinzu.

»Einen neuen Mantel?«

 

 

Akaki Akakjewitsch wurde es schwarz vor den Augen. Es war ihm, als ob sich die Schneiderwerkstatt um ihn herum drehe, und der einzige Gegenstand, den er klar unterscheiden konnte, war das mit Papier beklebte Porträt des Generals auf der Tabaksdose des Schneiders.

»Einen neuen Mantel«, murmelte er wie halb bewußtlos. »Aber ich habe ja kein Geld.«

»Jawohl, einen neuen Mantel«, wiederholte Petrowitsch mit grausamer Gelassenheit.

»Ja, selbst wenn ich einen solchen Entschluß faßte – wieviel –«

»Sie meinen, wieviel er kostet?«

»Ja.«

»Etwa hundertfünfzig Papierrubel«, antwortete der Schneider und kniff die Lippen zusammen.

Diesem verwünschten Schneider machte es ein besonderes Vergnügen, seine Kunden in Verlegenheit zu setzen und den Ausdruck ihrer Gesichter mit seinem schielenden einzigen Auge zu beobachten.

»Hundertfünfzig Rubel für einen Mantel?« wiederholte Akaki Akakjewitsch in einem Tone, der wie ein Aufschrei klang – vermutlich der erste Schrei, den er seit seiner Geburt ausgestoßen, denn er sprach sonst immer nur in ganz schüchternem Tone.

»Ja«, versetzte Petrowitsch, »und dann der Marderkragen und seidenes Futter für die Kapuze – das macht zusammen zweihundert Rubel.«

»Petrowitsch, ich beschwöre dich«, sagte Akaki Akakjewitsch mit flehender Stimme, da er die Worte des Schneiders nicht mehr hörte noch hören wollte, »versuche, mir diesen Mantel auszubessern, damit er noch eine Zeitlang vorhält.«

»Nein, das wäre ganz verlorne Arbeit und unnütze Verschwendung.«

Nach dieser Antwort ging Akaki ganz vernichtet wieder fort, während Petrowitsch mit zusammengebissenen Lippen, müßig und sehr zufrieden, daß er sich so fest gezeigt und die Schneiderwissenschaft so tapfer verteidigt hatte, auf dem Tische zurückblieb.

 

 

Ohne Ziel; aufs Geratewohl, wanderte Akaki wie ein Traumwandler in den Straßen umher … »Welch eine Verlegenheit!« sprach er in einem fort vor sich hin … »Wahrlich, das hätte ich nie geglaubt, daß es ein solches Ende nehmen würde. Nein«, fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »das konnte ich nicht ahnen, daß es dahin kommen könnte … da befinde ich mich nun in einer vollständig unerwarteten Lage … in einer Bedrängnis, daß –«

Und sein Selbstgespräch in dieser Weise fortsetzend, ging er, statt sich seiner Wohnung zu nähern, in einer ganz verkehrten Richtung, ohne es auch nur zu merken.

Ein Schornsteinfeger schwärzte ihm im Vorübergehen den Rücken. Aus einem Hause, an dem gebaut wurde, schüttete ihm ein Korb eine Ladung Gipsbrei auf den Kopf. Aber er sah und hörte nichts. Nur als er gegen einen Wachtposten anprallte, der, nachdem er seine Hellebarde neben sich gestellt, aus einer Dose Tabak in seine knochige Hand schüttete, wurde Akaki aus seiner Träumerei aufgerüttelt.

 

 

»Was suchst du hier?« schrie ihn der rohe Hüter der städtischen Ordnung an; »kannst du nicht ordentlich da über den Bürgersteig gehen?«

Diese plötzliche Anrede weckte Akaki endlich vollständig aus seinem dumpfen Zustande. Er sammelte seine Gedanken, betrachtete seine Lage mit ungetrübtem Blick und ging ernst, freimütig, wie mit einem Freunde, dem man seine Herzensgeheimnisse vertraut, mit sich zu Rate.

»Nein«, sprach er endlich, »heute erlange ich nichts von Petrowitsch … heute ist er in schlechter Laune … vielleicht hat ihn seine Frau geprügelt … ich will ihn nächsten Sonntag wieder aufsuchen. Sonnabends hat er sich einen Rausch angetrunken, dann muß er sich am folgenden Tage erholen … seine Frau gibt ihm kein Geld … ich drücke ihm einen Griwenik in die Hand, dann ist er gefügiger, und wir können weiter von dem Mantel reden.«

 

Durch diese Betrachtungen ermutigt, wartete Akaki geduldig bis zum Sonntag. Als er an diesem Tage von fern Petrowitschs Frau aus dem Hause gehen sah, begab er sich zu dem Schneider und fand ihn, wie er erwartet hatte, infolge des Samstagsvergnügens in sehr niedergeschlagener Stimmung. Aber kaum ließ Akaki ein Wort von dem Mantel fallen, da erwachte der diabolische Schneider urplötzlich aus seinem dumpfen Zustande und rief: »Nein, daraus wird nichts! Sie müssen sich unbedingt einen neuen Mantel kaufen!«

 

 

Der Titularrat drückte ihm einen Griwenik in die Hand.

»Danke, Verehrtester«, sagte Petrowitsch, »das wird mich wieder ein bißchen zu Kräften bringen, und ich will’s auf Eure Gesundheit vertrinken. Aber was Ihren alten Mantel anlangt, sehen Sie, wozu darüber reden? Der ist keinen roten Heller mehr wert. Lassen Sie mich nur machen, ich baue Ihnen einen prachtvollen Mantel, dafür stehe ich Ihnen ein.«

Der arme Akaki Akakjewitsch drang noch immer in den Schneider, ihm den alten auszubessern.

»Nein und nochmals nein«, versetzte Petrowitsch; »ganz unmöglich! Verlassen Sie sich auf mich, ich übervorteile Sie nicht. Und ich werde sogar, wie das jetzt Brauch ist, silberne Haken und Ösen an den Kragen ansetzen.«

 

 

Diesmal sah Akaki ein, daß er sich dem Willen des Schneiders fügen müsse, und wiederum sank ihm aller Mut. Er mußte sich einen neuen Mantel machen lassen. Aber wovon ihn bezahlen? Freilich hatte er eine amtliche Gratifikation zu erwarten. Aber dafür hatte er bereits eine Verwendung gefunden. Er mußte sich Beinkleider kaufen und seinen Schuhmacher bezahlen, der ihm zwei Paar Stiefel ausgebessert hatte, und neue Wäsche kaufen, kurz, alles war schon im voraus ausgegeben. Wenn – was ein ganz unerwarteter Glücksfall wäre – der Direktor die übliche Gratifikation selbst von vierzig auf fünfzig Rubel erhöhte, was war ein so winziger Betrag gegenüber der ungeheuren Summe, die Petrowitsch forderte. Ein Tropfen Wasser ins Meer.

 

Allerdings stand zu erwarten, daß Petrowitsch, wenn er guter Laune war, den Preis bedeutend herabsetzte, so daß seine Frau zu ihm sagen würde: »Bist du verrückt? Manchmal arbeitest du ganz umsonst, und ein andermal forderst du ganz unmenschliche Preise!«

 

Er meinte also, daß er Petrowitsch wohl dazu bestimmen würde, ihm seinen Mantel für achtzig Rubel zu liefern; aber diese achtzig Rubel – wo sie finden? Vielleicht könnte es ihm gelingen, wenn er alle Hebel in Bewegung setzte, sich die Hälfte zu verschaffen. Aber die andere Hälfte – er sah keinen Ausweg. Wir sind dem Leser Rechenschaft darüber schuldig, wie der wackere Titularrat sich diese Hälfte herbeizuschaffen gedachte. Er hatte die Gewohnheit, so oft er einen Rubel erhielt, eine Kopeke davon in eine geschlossene Büchse zu legen. Am Ende eines halben Jahres nahm er diese Kupferstücke und wechselte sie gegen Silber ein. Dieses Sparsystem hatte er schon seit langer Zeit betrieben, und in diesem Augenblick beliefen sich seine Ersparnisse auf vierzig Rubel. Auf diese Weise befand er sich im Besitz der Hälfte der erforderlichen Summe. Aber die andere Hälfte! Akaki stellte lange Berechnungen an; dann endlich sagte er sich, daß er mindestens ein ganzes Jahr hindurch verschiedene seiner täglichen Ausgaben beschränken, sich abends den Tee versagen und, wenn er eine Arbeit zu machen habe, sich mit seinen Akten in das Zimmer der Wirtin setzen müßte, um in seinem eigenen die Feuerung zu sparen. Auch nahm er sich vor, auf der Straße das spitzige Pflaster zu meiden, um so seine Fußbekleidung zu schonen, und dann auch noch die Ausgaben für Wäsche herabzusetzen.

 

 

Anfangs fielen ihm diese Entbehrungen etwas schwer. Allmählich jedoch gewöhnte er sich daran, und schließlich begab er sich ganz ohne Abendessen zu Bett. Während sein Körper unter dieser Abtötung litt, sog sein Geist aus dem stetigen Gedanken an seinen Mantel um so reichlichere Nahrung. Seit dieser Zeit schien es, als ob seine Natur sich vervollständigt, als ob er geheiratet hätte, als besäße er eine Genossin, die ihn auf seinem Lebenswege begleitete – und diese Genossin war das Bild seines Mantels, den er, ordentlich wattiert und gefüttert, vor sich sah.

Von jetzt an trat er lebhafter und fester auf, wie ein Mann, der sich sein Ziel gesetzt hat, das er unbedingt erreichen will. Seine schlaffen Züge, der haltlose Gang, die unsichern Bewegungen – das alles war verschwunden. Bisweilen strahlte ein ganz neuer Glanz aus seinen Augen, und in seinen kühnen Träumen legte er sich sogar die Frage vor, ob er sich nicht einen Marderkragen an seinen Mantel sollte machen lassen.

 

Durch solche und ähnliche Gedanken wurde er manchmal eigentümlich zerstreut. Als er eines Tages Akten kopierte, bemerkte er mit einemmal, daß er einen Fehler gemacht hatte … »O, o!« rief er aus, und machte hastig das Zeichen des Kreuzes.

 

Wenigstens einmal monatlich begab er sich zu Petrowitsch, um sich mit ihm über den kostbaren Mantel zu unterhalten und mehrere wichtige Fragen mit ihm zu besprechen, nämlich wo und zu welchem Preise er das Tuch kaufen und welche Farbe er am besten wählen sollte.

Jeder dieser Besuche gab Anlaß zu neuen Betrachtungen, und Akaki kehrte stets glücklicher in seine Wohnung zurück, da ja nun endlich der Tag kommen mußte, wo alles gekauft war, wo der Mantel fix und fertig bereitlag.

 

 

Dieses große Ereignis trat früher ein, als er gehofft hatte. Der Direktor gab ihm eine Gratifikation nicht von vierzig, auch nicht von fünfzig, sondern von fünfundsechzig Rubeln. Dieser würdige Beamte hatte gemerkt, daß unser Freund Akaki eines Mantels bedurfte – oder hatte er diese Ausnahme nur einem glücklichen Zufall zu danken?

Wie dem auch sei, Akaki war um fünfundzwanzig Rubel reicher. Eine solche Vermehrung seiner Hilfsquellen mußte notwendigerweise sein denkwürdiges Unternehmen beschleunigen.

Nur noch zwei bis drei Hungermonate, und Akaki hatte seine achtzig Rubel beieinander. Sein sonst so ruhiges Herz begann heftig zu pochen. Sobald er die ungeheure Summe von achtzig Rubeln vollständig zusammen hatte, suchte er Petrowitsch auf, und beide begaben sich in einen Tuchladen.

 

 

Ohne Zaudern kauften sie ein sehr gutes Stück Tuch. Seit länger als einem halben Jahr hatten sie unaufhörlich darüber nachgedacht und debattiert, und allmonatlich waren sie in den Läden umhergegangen, um sich nach dem Preise zu erkundigen. Petrowitsch klopfte auf den Stoff und erklärte, ein besserer sei gar nicht zu finden. Zum Futter nahmen sie festen und dicht gewebten Leinwandstoff, der nach der Behauptung des Schneiders besser war als Seide; und dann glänzte er so hell! Marderpelz kauften sie nicht, weil er zu teuer war; sie entschieden sich für den besten Katzenbalg, der im Laden war, einen Pelz, den man ganz, gut für Marder halten konnte.

 

Zur Anfertigung des Kleidungsstückes gebrauchte Petrowitsch volle vierzehn Tage; er machte eine unzählbare Menge von Stichen, sonst wäre er schneller damit fertig gewesen. Er taxierte seine Arbeit auf zwölf Rubel; weniger konnte er nicht fordern; alles war fein mit Seide genäht, und der Schneider bügelte die Nähte mit den Zähnen, daß die Spuren davon noch zu sehen waren.

Endlich kam er, der so heißersehnte Mantel …

 

 

Ich kann den Tag nicht ganz genau angeben, aber ganz gewiß war es der feierlichste in Akakis Leben. Der Schneider brachte also den Mantel. Er brachte ihn frühmorgens, bevor der Titularrat sich in sein Büro begeben mußte. In einem passenderen Augenblick hätte er nicht kommen können, denn die Kälte begann sich sehr lebhaft fühlbar zu machen.

Petrowitsch nahte mit der würdevollen Miene eines bedeutenden Schneiders. Sein Gesicht hatte einen eigentümlich ernsten Ausdruck – so hatte ihn der Titularrat noch nie gesehen. Er war sich seines Wertes voll bewußt und maß in Gedanken mit Stolz den Abgrund, der den Handwerker, der nur alte Kleider ausbessert, von dem Künstler scheidet, der neue anfertigt.

 

 

Der Mantel war in ein erst vor kurzem gewaschenes Tuch gewickelt, das der Schneider sorgfältig aufknüpfte und wieder zusammenlegte, um es dann in die Tasche zu stecken. Hierauf nahm er stolz den Mantel zwischen beide Hände und legte ihn Akaki Akakjewitsch auf die Schultern. Dann zog er ihn hinten zurecht, um zu sehen, wie er majestätisch in seiner ganzen Länge herabwallte. Endlich wollte er den Eindruck beurteilen, den er in nicht zugeknöpftem Zustande machte. Akaki jedoch wünschte die Ärmel zu probieren, und diese Ärmel saßen wundervoll. Mit einem Wort, der Mantel war tadellos, und der Schnitt ließ nichts zu wünschen übrig.

 

Indem der Schneider sein Werk betrachtete, verfehlte er nicht zu sagen, daß, wenn er den Mantel für einen so niedrigen Preis gemacht habe, das nur deshalb geschehen sei, weil er bloß eine bescheidene Miete zu bezahlen habe und er Akaki Akakjewitsch seit langer Zeit kenne; dann hob er stolz hervor, daß ein auf dem Newskiprospekt wohnender Schneider mindestens fünfundsechzig Rubel für die Anfertigung eines solchen Mantels gefordert haben würde. Der Titularrat wollte sich über diesen Gegenstand nicht in eine Debatte mit ihm einlassen. Er bezahlte, dankte ihm und ging dann fort, um sich in sein Büro zu verfügen.

 

 

Petrowitsch ging mit ihm hinaus und blieb unten auf der Straße stehen, um ihn so lange wie möglich mit seinem Mantel gehen zu sehen, worauf er dann in aller Hast durch ein Quergäßchen eilte, um den Titularrat noch einmal ins Auge zu fassen.

Mit den angenehmsten Gedanken beschäftigt, begab sich Akaki in sein Büro. Jeden Augenblick fühlte er, daß er ein neues Kleidungsstück auf den Schultern hatte, und lächelte mit süßer Genugtuung in sich hinein.

 

Zwei Gedanken gingen ihm durch den Kopf: zunächst, daß der Mantel warm, und zweitens, daß er schön war. Ohne auf dem Wege, den er zurücklegte, irgend etwas zu bemerken, schritt er in gerader Linie auf die Kanzlei zu, legte seinen Schatz im Vorzimmer ab, betrachtete ihn von allen Seiten und sah dann den Portier mit einer ganz besonderen Miene an.

Ich weiß nicht, ob sich das Gerücht in den Büros verbreitet hatte, die alte Kapuze habe aufgehört zu existieren. Sämtliche Kollegen eilten herbei, um Akakis prachtvollen Mantel zu prüfen, und begannen ihn in einer Weise zu beglückwünschen, daß er anfangs mit einem Gefühl der Genugtuung lächeln mußte, dann aber in eine gewisse Verlegenheit geriet.

 

Wie groß war aber seine Überraschung, als seine grausamen Kollegen die Bemerkung machten, Akaki müsse seinen Mantel in feierlicher Weise einweihen und ihnen einen Schmaus geben. Der arme Akaki war so verdutzt und bestürzt, daß er nicht wußte, was er antworten, wie er sich entschuldigen sollte. Errötend stotterte er, das Kleidungsstück sei nicht so neu, wie man vielleicht glaube, es sei ein ganz alter Stoff verwendet.

Da nahm einer seiner Vorgesetzten, der wahrscheinlich beweisen wollte, daß er auf seinen Rang und Titel nicht allzu stolz sei und es keineswegs verschmähe, mit seinen Unterbeamten zu verkehren, das Wort und sagte: »Meine Herren! Statt unseres Akaki Akakjewitsch werde ich Sie zu einem kleinen Mahl vereinen; ich lade Sie hiermit ein, heut abend bei mir den Tee zu trinken. Es ist heute grade mein Geburtstag.«

 

 

Sämtliche Beamten dankten ihrem Vorgesetzten für sein Wohlwollen und nahmen die Einladung freudig an. Akaki wollte ablehnen; aber es wurde ihm gesagt, das wäre eine grobe Unhöflichkeit, ein unverzeihliches Benehmen, und so fügte er sich denn endlich in das Unvermeidliche.

Übrigens empfand er eine gewisse Freude bei dem Gedanken, daß sich ihm auf diese Weise Gelegenheit bot, mit seinem neuen Mantel über die Straße zu gehen. Dieser ganze Tag war für ihn ein Festtag. In der glücklichsten Stimmung kehrte er in seine Wohnung zurück, nahm seinen Mantel ab und hängte ihn, nachdem er das Tuch und Futter noch einmal untersucht hatte, an die Wand. Dann suchte er seine alte Kapuze hervor, um sie mit Petrowitschs Meisterwerk zu vergleichen. Seine Blicke schweiften von dem einen Kleidungsstück zum andern, und lächelnd dachte er: »Welch ein Unterschied!«

 

Fröhlich nahm er sein Mittagessen zu sich, und nach beendeter Mahlzeit setzte er sich nicht hin, um Kopien anzufertigen – nein, er setzte sich wie ein Sybarit auf das Sofa und erwartete den Abend. Dann machte er Toilette, nahm seinen Mantel und ging aus.

Wo der Vorgesetzte wohnte, der in so liberaler Weise seine Unterbeamten zu sich eingeladen, vermag ich nicht zu sagen. Mein Gedächtnis beginnt etwas schwach zu werden, und die unzähligen Straßen und Häuser Petersburgs gehen mir so wirr im Kopf herum, daß ich Mühe habe, mich darin zurechtzufinden. Nur so viel steht fest, daß der ehrenwerte Beamte in einem schönen Viertel unserer Hauptstadt und also sehr weit von Akaki Akakjewitsch wohnte.

 

Anfangs durchschritt der Titularrat mehrere schlecht beleuchtete Straßen, die ganz leer erschienen. Aber je mehr er sich der Wohnung seines Vorgesetzten näherte, um so glänzender, belebter wurden die Straßen; es begegneten ihm unzählige Passanten und elegant gekleidete schöne Damen und Männer mit Biberkragen. Die Bauernschlitten mit ihren Holzbänken und ihren Bronzeköpfen zeigten sich immer seltener, während er jeden Augenblick gewandte Kutscher mit Samtmützen gewahrte, die lackierte und mit Bärenfellen ausgelegte Schlitten und prachtvolle Wagen lenkten.

 

 

Unserm Akaki war ein solches Schauspiel ganz neu. Schon seit vielen Jahren war er abends niemals ausgegangen. Neugierig blieb er vor dem Schaufenster eines Kunsthändlers stehen. Namentlich eines der Bilder zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Es stellte eine Frau dar, die ihren Schuh auszog und einen hübschen Fuß zeigte, während ein junger Mann durch eine halbgeöffnete Tür sie beobachtete – ein junger Mann mit großem Schnurr- und Backenbart.

 

Nachdem Akaki Akakjewitsch dieses französische Bild angesehen hatte, schüttelte er den Kopf und ging lächelnd weiter. Warum lächelte er denn? Weil er ein ihm ganz neues Bild gesehen? Oder glaubte er wie die meisten seiner Kollegen, die Franzosen hätten doch merkwürdige Einfälle? Vielleicht dachte er gar nichts, und kann man dem Menschen ins Herz sehen, um zu entdecken, was er denkt?

 

Da ist er endlich an dem Hause angekommen, in das man ihn eingeladen. Sein Vorgesetzter wohnt ganz prachtvoll; an seiner Tür befindet sich eine Laterne, und er hat den ganzen zweiten Stock inne. Als Akaki in das Vorzimmer trat, bemerkte er eine lange Reihe von Galoschen; auf einem Tisch rauchte und pfiff eine Teemaschine; an der Wand hingen die Mäntel, von denen mehrere mit Samt- oder Pelzkragen geziert waren. In dem anstoßenden Zimmer hörte er ein wirres Geräusch, das einen etwas bestimmteren Charakter annahm, als ein Diener die Tür öffnete und mit einem Brett voll leerer Tassen, einem Milchtopf und einem Biskuitkörbchen herauskam. Augenscheinlich waren die Gäste schon lange anwesend und hatten bereits ihre erste Tasse Tee geleert.

 

 

Nachdem Akaki seinen Mantel an einen Haken gehängt, trat er auf das Zimmer zu, in dem seine mit langen Pfeifen bewaffneten Kollegen sich um Spieltische gruppiert hatten und ziemlich viel Lärm machten.

 

Er trat also ein, blieb jedoch unmittelbar an der Tür stehen, da er nicht wußte, was er anfangen sollte; aber seine Kollegen begrüßten ihn mit lauten Zurufen und eilten in das Vorzimmer, um seinem Mantel zu huldigen. Den wackern Titularrat brachte dieser Auftritt ganz aus der Fassung. Doch freute er sich in seiner Herzenseinfalt über die Lobsprüche, die seinem kostbaren Kleidungsstück gespendet wurden. Bald darauf gaben die Kollegen ihm seine Freiheit wieder und setzten ihre Whistpartien fort.

 

Die Bewegung, die Aufregung, die lebhafte Unterhaltung beunruhigten das schüchterne Gemüt Akakis im höchsten Grade. Er wußte nicht einmal, was er mit seinen Händen anfangen, wo er sie hinlegen oder -stecken sollte; endlich setzte er sich zu den Spielern, betrachtete bald ihre Gesichter, bald die Karten, bald gähnte er, denn er fühlte, daß der Zeitpunkt schon längst vorüber sei, wo er sich täglich zu Bett legte. Er wollte nach Hause gehen, aber man hielt ihn zurück und erklärte ihm, er könne sich nicht entfernen, ohne wenigstens an diesem für ihn so denkwürdigen Tage ein Glas Champagner getrunken zu haben.

 

Bald wurde das Abendessen aufgetragen. Es bestand aus kalter Fleischbrühe, kaltem Kalbfleisch, Kuchen und verschiedenem Gebäck, dies alles begleitet von mehreren Flaschen Champagner. Akaki sah sich genötigt, zwei große Gläser dieser prickelnden Flüssigkeit auszutrinken, worauf sich alles um ihn her in einer freundlicheren Gestalt zeigte. Doch konnte er nicht vergessen, daß es schon zwölf Uhr nachts war und daß er sich eigentlich bereits mehrere Stunden in seinem Bett befinden müßte.

 

Aus Furcht, noch einmal zurückgehalten zu werden, schlüpfte er verstohlen in das Vorzimmer, wo er mit Schmerz seinen Mantel am Boden liegen sah. Sorgfältig schüttelte er ihn, zog ihn an und ging fort.

 

 

Draußen brannten noch Lichter. Die kleinen, von Dienern und dem untern Volk besuchten Schenken waren teils noch offen, teils eben erst geschlossen worden. Aber an dem hellen Licht, das an ihren Türen brannte, war leicht zu ersehen, daß sich dort noch Leute befanden – wahrscheinlich sogar Diener und Dienstmädchen, die sich wenig Sorge um ihre Herrschaft machten.

 

In fröhlicher Gemütsstimmung schlug Akaki Akakjewitsch die Richtung nach Hause ein. Plötzlich bemerkte er, daß er sich in einer langen Straße befand, in der es am Tage und noch mehr des Nachts ganz still war. Alles um ihn herum hatte ein finsteres Aussehen. Nur da und dort eine Laterne, die aus Mangel an Öl zu erlöschen drohte, hölzerne Häuser, Bretterzäune, aber nirgends eine lebende Seele. Bei dem fahlen Scheine dieser halb erloschenen Laternen schimmerte nur noch der Schnee auf der Straße, und trübselig nahmen sich die in Dunkel gehüllten, kleinen Gebäude aus. Er ging auf eine Stelle zu, wo die Straße auf einen ungeheuren Platz mündete, an dessen anderer Seite die Häuser kaum zu sehen waren und der sich wie eine schreckliche Wüste ausnahm.

 

In der Ferne, Gott weiß wo, schimmerte die Laterne eines Schilderhauses, das ihm am Ende der Welt zu stehen schien. In demselben Augenblick verließ den Titularrat seine freudige Stimmung. Er ging mit beklommener Brust auf die Stelle zu; es war ihm, als drohte ihm ein Unheil. Unterwegs blickte er beständig voll Schrecken um sich. Der trübselige Platz sah ihm aus wie ein wilder Ozean. Nein, dachte er, ich will lieber nicht hinsehen; und nun setzte er seinen Weg gesenkten Blickes fort; als er seine Augen wieder erhob, sah er plötzlich mehrere Männer mit langen Schnurrbärten vor sich, deren Gesichter er nicht zu unterscheiden vermochte. Es ward ihm dunkel vor den Augen, das Herz schnürte sich ihm zusammen.

 

»Da ist mein Mantel!« schreit einer der Männer und packt Akaki am Kragen.

Akaki will um Hilfe rufen. Ein anderer drückt ihm eine große knochige Faust auf den Mund und sagt zu ihm: »Versuch’s nur zu schreien!«

In demselben Augenblick fühlte der unglückliche Titularrat, daß ihm der Mantel fortgenommen wurde, und zugleich erhielt er einen Fußtritt, daß er bewußtlos in den Schnee fiel.

Einige Augenblicke später kam er wieder zu sich und stand auf; aber kein Mensch war mehr zu sehen. Seines Kleidungsstückes beraubt und ganz durchfroren, begann er aus aller Macht zu schreien, aber sein Rufen vermochte nicht ans Ende des Platzes zu dringen. In einemfort schreiend lief er mit der Wut der Verzweiflung nach dem Schilderhaus zu dem Wachtsoldaten, der, die Arme auf seine Hellebarde gestützt, ihn schon von weitem fragte, warum zum Teufel er denn einen solchen Höllenlärm mache und so schnell herangelaufen komme.

 

 

Als Akaki ihn erreicht hatte, beschuldigte er den Soldaten, er sei betrunken, da er nicht gesehen habe, daß in kurzer Entfernung von seinem Posten die Vorübergehenden geplündert würden.

»Ich habe Sie sehr wohl gesehen«, antwortete der Mann, »mitten auf dem Platz mit zwei Männern, ich glaubte, ihr wäret Freunde. Es hat keinen Zweck, sich so aufzuregen. Gehen Sie morgen zu dem Polizeiinspektor, der wird dann die Sache in die Hand nehmen, nach den Dieben forschen und eine Untersuchung einleiten.«

Was beginnen?

Der unglückliche Titularrat langte in schrecklicher Unordnung in seiner Wohnung wieder an; das Haar hing ihm wirr über die Stirn. Seine Kleider waren mit Schnee bedeckt. Als seine alte Wirtin so ungestüm an die Tür pochen hörte, sprang sie schnell auf und eilte, nur halb angekleidet, herbei, fuhr aber bei Akakis Anblick erschreckt zurück.

 

Als er ihr erzählt hatte, was geschehen war, schlug sie die Hände zusammen und rief aus: »Nicht an den Polizeiinspektor müssen Sie sich wenden, sondern an den Reviervorstand. Der Inspektor wird Sie mit schönen Worten abspeisen und nichts in der Sache tun. Aber der Reviervorstand – den kenne ich seit langer Zeit. Meine frühere Köchin Anna ist jetzt in seinem Dienst, und ich sehe ihn oft unter unseren Fenstern vorübergehen. Er geht alle Festtage in die Kirche, und man sieht es ihm sofort an, daß er ein braver Mann ist.«

 

Nach dieser beredten Erzählung zog sich Akaki traurig in sein Zimmer zurück. Wer sich eine solche Lage vorzustellen vermag, wird begreifen, was für eine Nacht er verlebte.

Gleich am andern Morgen begab er sich zu dem Reviervorstand. Es wurde ihm der Bescheid, der Beamte schlafe noch. Gegen zehn Uhr kam er wieder. Der ehrenwerte Beamte schlief immer noch. Gegen zwölf Uhr war er ausgegangen. Um die Essenszeit stellte sich der Titularrat noch einmal vor; aber die Schreiber fragten ihn streng, was für eine Angelegenheit ihn denn zu ihrem Vorgesetzten führe. Da, zum ersten Male in seinem Leben, zeigte Akaki einen energischen Charakter. Er erklärte, er müsse unbedingt den Reviervorstand sprechen, und man möge nur ja nicht versuchen, ihn daran zu verhindern, denn es handle sich um eine offizielle Angelegenheit, und wer sich erkühnen wolle, ihm die geringste Schwierigkeit in den Weg zu legen, dem würde es teuer zu stehen kommen.

 

 

Auf eine solche Sprache war nichts zu erwidern. Einer der Schreiber entfernte sich, um ihn seinem Vorgesetzten zu melden. Dieser hörte Akakis Erzählung in etwas seltsamer Weise an. Statt sich an die Hauptsache, das heißt an den Diebstahl, der begangen worden, zu halten, fragte er den Titularrat, wie er dazu komme, sich so spät auf der Straße zu befinden, und ob er nicht in einem verdächtigen Hause gewesen sei.

Durch solche Fragen verblüfft, wußte der Titularrat nicht, was er antworten sollte, und zog sich wieder zurück, ohne zu wissen, ob in seiner Sache etwas getan würde oder nicht.

 

Den ganzen Tag war er nicht in seinem Büro gewesen – ein völlig unerhörtes Ereignis in seinem Leben. Am folgenden Tage erschien er dort wieder mit bleichem Gesicht, unruhig in seinem alten Rock, der erbärmlicher denn je aussah. Als seine Kollegen von dem Unglück hörten, das ihn betroffen, waren einige noch grausam genug, darüber zu lachen; die meisten jedoch fühlten ein aufrichtiges Bedauern und veranstalteten eine Subskription zu seinen Gunsten. Allein dieses löbliche Unternehmen hatte nur einen ganz unbedeutenden Erfolg, weil dieselben Beamten erst vor kurzem zu zwei anderen Subskriptionen beigesteuert hatten. In dem einen Fall, um das Porträt ihres Direktors anzuschaffen, und in dem andern, um ein Werk zu erwerben, das ein Freund ihres Chefs veröffentlicht hatte.

 

 

Einer von ihnen, der für Akaki aufrichtiges Mitleid empfand, wollte ihm dann in Ermangelung von etwas Besserem einen guten Rat geben. Er sagte ihm, es wäre verlorene Mühe, noch einmal zu dem Reviervorstand zu gehen, weil selbst in dem Falle, daß dieser Beamte so glücklich sein sollte, den Mantel wiederzuerlangen, die Polizei ihn so lange behalten würde, bis der Titularrat unzweideutig bewiesen habe, daß er der wirkliche Eigentümer sei. Er forderte ihn auf, sich an eine gewisse hochstehende Persönlichkeit zu wenden, welche hochstehende Persönlichkeit durch ihre guten Beziehungen die Sache bei den Behörden schneller betreiben könnte.

 

In seiner Verwirrung entschloß sich Akaki, diesen Rat zu befolgen. Welche Stellung diese Persönlichkeit bekleidete, und wie hoch sie eigentlich stehe, wußte man nicht. Es war weiter nichts bekannt, als daß die Persönlichkeit erst ganz vor kurzem zu ihrem hohen Amte gelangt sei. Soviel stehe ferner fest, daß es noch höhere Persönlichkeiten gebe, da dieser Beamte alle möglichen Hebel in Bewegung setze, um noch höher emporzukommen. So nötigte er andere Beamte, wenn er sich in sein Kabinett begab, unten an der Treppe auf ihn zu warten, und niemand konnte direkt zu ihm gelangen. Der Kollegiensekretär teilte das Gesuch dem Regierungssekretär mit, der es einem höheren Beamten zustellte, und dieser endlich übergab es der hohen Persönlichkeit selbst.

 

 

Das ist der Geschäftsgang in unserem heiligen Rußland. In dem Bestreben, es dem höheren Beamten gleichzutun, äfft jeder die Manieren seiner Vorgesetzten nach. Vor kurzem setzte ein Titularrat, der zum Vorsteher eines kleinen Büros ernannt worden war, sofort über eines seiner Stübchen die Aufschrift: Beratungssaal. Dort befanden sich Diener mit roten Kragen und Stickereien an den Kleidern, um die Bittsteller anzumelden und in den Saal zu führen, der so eng war, daß kaum ein Stuhl darin stehen konnte.

 

Aber kehren wir zu der hochstehenden Persönlichkeit zurück. Ihr Verfahren war würdevoll imponierend, aber ein wenig verwickelt. Das System ließ sich in ein einziges Wort zusammenfassen: Strenge, Strenge, Strenge. Dieses klangvolle Wort wiederholte er dreimal nacheinander, und das letztemal sah er den, mit dem er’s zu tun hatte, durchdringend an. Er hätte es sich vollkommen sparen können, soviel Energie an den Tag zu legen, denn die zehn Beamten, die seinem Befehl zu gehorchen hatten, fürchteten ihn ohnehin schon genug. Sowie sie ihn von fern kommen sahen, beeilten sie sich, ihre Federn hinzulegen, und sprangen herbei, um sich respektvoll dort, wo er vorüberkam, aufzustellen. In den Gesprächen mit seinen Untergebenen beobachtete er eine stolze, erhabene Haltung und sagte kaum etwas anderes als die Worte: »Was wollen Sie? Wissen Sie auch, mit wem Sie reden? Bedenken Sie auch, wer vor Ihnen steht?«

 

Im übrigen war er ein gutmütiger Mensch, freundlich und liebenswürdig gegen seine Freunde. Nur hatte ihm der Generalstitel den Kopf verdreht. Seit dem Tage, da er ihm beigelegt worden, lebte er den größten Teil des Tages in einer Art Schwindel; bei seinesgleichen jedoch gewann er wieder das Gleichgewicht, und dann ließ sich nicht verkennen, daß es ihm in mehr als einer Beziehung nicht an Liebenswürdigkeit fehlte. Aber sobald er sich in einer Gesellschaft mit einer Persönlichkeit zusammenfand, die einen geringeren Rang bekleidete als er, verschanzte er sich hinter eine strenge Schweigsamkeit, und diese Lage war ihm um so peinlicher, als er sehr wohl fühlte, daß er seine Zeit eigentlich angenehmer verleben konnte.

 

 

Allen, die ihn in einem solchen Augenblick beobachteten, war es unzweifelhaft, daß er vor Verlangen brannte, sich an einer interessanten Unterhaltung zu beteiligen, aber die Furcht, irgendwelche unvorsichtige Zuvorkommenheit an den Tag zu legen, zu vertraulich zu erscheinen und dadurch seine Würde schwer zu schädigen, hielt ihn zurück. Um sich einer solchen Gefahr zu entziehen, bewahrte er eine außerordentliche Zurückhaltung und sprach nur von Zeit zu Zeit irgendein einsilbiges Wort. Kurz, er hatte es so weit gebracht, daß man ihn den Langweiligen nannte, und diesen Titel hatte er durchaus verdient.

 

So war die Persönlichkeit, deren Hilfe der bescheidene Akaki in Anspruch nehmen sollte. Der Augenblick, in dem er seinen Schritt unternahm, schien ganz besonders dazu ausersehen, der Eitelkeit des Generals zu schmeicheln, und mußte doch zugleich der Sache des Titularrats günstig sein.

 

Die hohe Persönlichkeit befand sich in ihrem Kabinett und plauderte fröhlich mit einem alten Freunde, den er seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte, als ihm gemeldet wurde, daß ein Herr Baschmatschkin um die Ehre bitte, bei Seiner Exzellenz vorgelassen zu werden.

»Wer ist der Mann?« fragte die hohe Persönlichkeit in verächtlichem Tone.

»Ein Beamter«, antwortete der Bote.

»Soll warten! Habe jetzt keine Zeit, ihn zu empfangen.«

Der edle Beamte log, es hinderte ihn gar nichts, die verlangte Audienz zu gewähren. Sein Freund und er hatten bereits verschiedene Gesprächsstoffe völlig erschöpft. Schon mehr als einmal waren lange Gesprächspausen eingetreten, in denen sie sich leicht auf die Schultern geklopft mit den Worten: »So also war es, mein Lieber.« – »Jawohl, Stephan.«

 

 

Aber der General weigerte sich, den Bittsteller zu empfangen, um seinem Freunde, der den Dienst quittiert hatte und auf dem Lande lebte, seine Bedeutung als General zu beweisen und um ihm zu zeigen, daß die Beamten im Vorzimmer warten müßten, bis es ihm beliebe, sie zu empfangen.

Endlich, nachdem sie noch verschiedene andere Dialoge geführt und noch einige weitere Pausen überstanden hatten, während derer die beiden Freunde sich in ihren Sesseln zurückgelehnt und den Zigarrenrauch in die Luft geblasen hatten, schien der General sich plötzlich zu erinnern, daß man ihn um eine Audienz ersucht habe. Er rief den Sekretär, der mit verschiedenen Papieren an der Tür stand, herbei und befahl ihm, den Bittsteller eintreten zu lassen.

 

Als er Akaki mit seinem demütigen Gesicht und seiner alten Uniform sich nähern sah, wandte er sich plötzlich nach ihm um und sagte:

»Was wollen Sie?« – und zwar mit sehr strenger Stimme, der er noch einen vibrierenden Klang zu geben suchte, den er sich acht Tage, bevor er seinen pomphaften Generalstitel erhalten, vor seinem Spiegel einexerziert hatte.

Durch diese rauhe Anrede wurde der schüchterne Akaki völlig verblüfft. Doch machte er eine Anstrengung, um wieder einige Haltung zu gewinnen und zu erzählen, wie ihm sein Mantel gestohlen worden, nicht ohne seinen Bericht mit einer Menge Einzelheiten zu überladen. Er fügte hinzu, er wende sich an Seine Exzellenz, in der Hoffnung, daß durch deren wohlwollende Fürsprache bei dem Polizeipräsidenten oder irgendeiner andern hohen Persönlichkeit der Mantel wieder zum Vorschein kommen würde.

 

Der General fand dieses Verfahren ein wenig unbürokratisch.

»He, mein Herr!« sagte er, »wissen Sie nicht, welche Schritte Sie in einem solchen Falle zu tun haben? Woher kommen Sie denn? Wissen Sie nicht, welchen Geschäftsgang die Dinge nehmen? Sie hätten in der Kanzlei einen Antrag einreichen müssen; der wäre dann in die Hände des Bürovorstehers und hierauf in die des Bürodirektors gelangt, worauf er dann durch meinen Sekretär vorgetragen worden wäre, und mein Sekretär würde Ihnen dann« – – »Gestatten Sie mir«, versetzte Akaki, eine ungeheure Anstrengung machend, um das Wenige an Geistesgegenwart, das er noch besaß, zu bewahren, denn er fühlte, daß der Schweiß ihm über die Stirn floß, »gestatten mir Ew. Exzellenz die Bemerkung, daß, wenn ich gewagt habe, Sie in dieser Angelegenheit zu belästigen, daß – daß die Sekretäre – – die Sekretäre Leute sind, von denen nichts zu hoffen ist.«

 

»Was, wie! Ist es möglich!« rief der General. »Wie können Sie eine solche Sprache führen? Wo haben Sie sich solche Vorstellungen angeeignet? Das ist schändlich, junge Leute sich so gegen ihre Vorgesetzten empören zu sehen!«

In seinem Amtseifer bemerkte der General nicht, daß der Titularrat hoch in den Fünfzigern stand und daß ihm das Beiwort jung nur bedingungsweise, das heißt im Vergleich mit einem Manne von etwa siebzig Jahren, zukam. »Wissen Sie auch«, fuhr er fort, »mit wem Sie reden? Bedenken Sie, vor wem Sie hier stehen? Bedenken Sie das? Ich frage Sie, bedenken Sie das?«

 

Und indem er diese Worte sprach, stampfte er mit dem Fuße, und seine Stimme nahm eine furchtbare Klangfülle an.

Akaki war ganz bestürzt, ja geradezu entsetzt; er zitterte und bebte und vermochte sich kaum aufrechtzuhalten; ohne einen Bürodiener, der ihm zu Hilfe eilte, wäre er zu Boden gefallen, und fast bewußtlos wurde er fortgeschleppt.

 

 

Der General jedoch war ganz entzückt über die Wirkung, die er erzielt – sie übertraf alle seine Erwartungen; und voll Genugtuung darüber, daß seine Worte auf einen schon bejahrten Mann einen solchen Eindruck zu machen vermochten, daß er das Bewußtsein verlor, warf er einen Seitenblick auf seinen Freund, um zu sehen, welche Wirkung der Auftritt auf ihn gemacht hatte. Welche Genugtuung empfand er, als er bemerkte, daß sogar sein Freund bewegt war und ihn schüchtern anblickte.

Wie Akaki die Treppe hinuntergelangte und wie er über die Straße schritt, darüber vermochte er sich selbst keine Rechenschaft zu geben, denn er fühlte sich mehr tot als lebendig. In seinem ganzen Leben war er noch, nicht von einem General getadelt worden, und noch dazu von einem fremden General.

 

Er wanderte in dem Sturm, der draußen wütete, dahin, ohne die mindeste Vorsicht zu beobachten, ohne sich auf dem Bürgersteige irgendwie gegen die Unbilden des Wetters zu schützen. Der Wind, der von allen Seiten und aus allen Gäßchen herausblies, entzündete ihm die Kehle. Zu Hause angelangt, war er außerstande, ein Wort zu sprechen. Er legte sich zu Bett. Eine solche Wirkung hatte die Lektion des Generals hervorgebracht.

 

Am folgenden Tage hatte Akaki ein heftiges Fieber. Dank dem Petersburger Klima entwickelte sich seine Krankheit mit furchtbarer Schnelligkeit. Als der Arzt kam, waren schon alle Heilmittel vergeblich. Nachdem der ehrenwerte Doktor ihm den Puls gefühlt, verordnete er einige Breiumschläge, und zwar lediglich, um ihn nicht ohne die Mitwirkung der Medizin sterben zu lassen, und erklärte zugleich, der Patient habe nur noch zwei Tage zu leben.

Nach diesem Ausspruch sagte er zu Akakis Wirtin:

»Sie haben keine Zeit mehr zu verlieren, bemühen Sie sich um einen Fichtensarg, denn für diesen armen Mann würde ein Sarg aus Eichenholz zu kostspielig werden.«

 

 

Ob der Titularrat diese Worte vernahm, ob sie ihn in eine heftige Erregung versetzten, und ob er sein unglückseliges Dasein beklagte, das hat niemals ein Mensch erfahren, denn er phantasierte beständig. Seltsame Erscheinungen gingen ihm unaufhörlich durch das geschwächte Hirn. Bald sah er sich Petrowitsch gegenüber, und er bat ihn, ihm einen Mantel mit Schlingen für die Diebe zu machen, die ihn in seinem Bette verfolgten; und er bat seine alte Wirtin, die Räuber zu verjagen, die sich unter seiner Decke versteckten. Bald stand er vor dem General, hörte seine strenge Strafrede an und bat seine Exzellenz um Vergebung. Dann wieder verstrickte er sich in so seltsame Reden, daß die brave alte Frau sich entsetzt bekreuzigte. Nie im Leben hatte sie so etwas gehört, und die ungeheuerlichen Phantasien setzten sie um so mehr in Erstaunen, als beständig der Titel Exzellenz darin vorkam. Dann murmelte er wirre zusammenhanglose Worte, nur daß die Phantasien des armen Kranken sich beständig um einen Mantel drehten.

 

Endlich hauchte Akaki seinen letzten Seufzer aus. Weder sein Zimmer noch sein Schrank wurden versiegelt, aus dem einfachen Grunde, weil er keinen Erben hatte und nichts anderes zurückließ als ein Bündel Gänsefedern, ein Heft mit weißem Papier, drei Paar Strümpfe, einige Hosenknöpfe und den alten Rock. Wem fiel diese Hinterlassenschaft zu? Gott mag’s wissen. Der Verfasser dieser Geschichte hat nie danach geforscht.

 

 

Akaki wurde in ein Leichentuch gehüllt und auf dem Friedhofe beigesetzt. Die große Stadt Petersburg lebte ganz in der alten Weise weiter, als hätte er niemals existiert. So verschwand ein menschliches Wesen, das weder Beschützer noch Freunde gehabt, das niemand eine wirkliche herzliche Teilnahme eingeflößt, das nicht einmal die Neugier der Naturforscher erregt hatte, die doch so eifrig bemüht sind, ein seltenes Insekt auf die Nadel zu spießen, um es mikroskopisch zu untersuchen. Ohne einen Klageton hatte dieses Wesen den Hohn und Spott seiner Kollegen ertragen. Ohne daß ihm ein außerordentliches Ereignis zugestoßen war, war es seinen Weg zum Grabe gewandelt; nur gegen sein Lebensende hatte ein Mantel es in jugendliche Aufregung versetzt, dann hatte das Unglück es zu Boden geschleudert.

 

 

Einige Tage nach seiner Unterredung mit dem General schickte sein Vorgesetzter, da niemand in der Kanzlei wußte, was aus ihm geworden, einen Bürobedienten zu ihm mit dem Befehl, sich sofort auf seinen Posten zu begeben. Der Bürobediente kam mit der Nachricht zurück, man würde den Titularrat nie wieder zu sehen bekommen.

»Warum denn nicht?« fragten alle.

»Weil er vor vier Tagen begraben ist.«

Auf diese Weise erfuhren Akakis Kollegen seinen Tod. Am folgenden Tage war seine Stelle mit einem Beamten von einer etwas robusteren Natur besetzt, mit einem Manne, der sich nicht so viel Mühe gab, schöne Abschriften von den Akten zu fertigen …

 

 

 

Es hat den Anschein, als sei Akakis Geschichte hier zu Ende und als hätten wir nichts mehr von ihm zu berichten. Allein der bescheidene Titularrat war dazu ausersehen, nach seinem Tode mehr Aufsehen zu machen als während seines Lebens, und jetzt nimmt unsere Erzählung eine phantastische Wendung.

 

Eines Tages verbreitete sich in Petersburg die Nachricht, in der Nähe der Katinkabrücke erscheine allnächtlich ein Toter in einer Uniform, wie sie die Beamten der Kanzleien trügen, und dieser Tote suche einen gestohlenen Mantel und nähme ohne alle Rücksicht auf Rang und Titel allen Vorübergehenden die Mäntel ab, mit Watte, Nerz, Katzen-, Ottern-, Bären- und Biberfellen gefütterte, kurz alle, deren er habhaft werden könnte. Einer der früheren Kollegen des Titularrats hatte das Gespenst gesehen und Akaki ganz deutlich erkannt. Mit allen Kräften laufend, war es ihm geglückt zu entkommen; aber noch von ferne hatte er ihn mit der Faust drohen sehen. Überall hörte man, daß Räte, und zwar nicht bloß Titularräte, sondern auch Staatsräte, sich eine bedenkliche Erkältung zugezogen hätten, infolge des an ihren ehrenwerten Schultern begangenen Raubes.

 

Die Polizei traf alle möglichen Maßregeln, um das Gespenst tot oder lebendig in ihre Gewalt zu bekommen und ihm eine exemplarische Strafe aufzuerlegen; aber alle Versuche waren vergebens.

 

 

Eines Abends jedoch glückte es einem Wachtsoldaten, sich des Übeltäters in dem Augenblick zu bemächtigen, da er einem Musikanten den Mantel wegnehmen wollte. Der Posten ruft sofort zwei Kameraden herbei, denen er den Gefangenen anvertraut, während er seine Tabaksdose sucht, um ihm die halberfrorene Nase wieder zu beleben. Wahrscheinlich war sein Tabak so stark, daß selbst ein Toter den Geruch nicht zu ertragen vermochte. Kaum hatte er seinen Nüstern einige Körnchen anvertraut, als der Gefangene mit solcher Macht zu niesen begann, daß eine Art Nebel die Augen der Wachtsoldaten verhüllte. Während die drei sich die Augenlider rieben, verschwand der Gefangene. Seit diesem Tage hatten alle Wachtsoldaten einen solchen Schrecken vor dem Toten, daß sie nicht einmal mehr die Lebenden zu arretieren wagten und ihnen schon von weitem zuschrien: Geht weiter, weiter!

 

Das Gespenst ging bis jenseits der Katinkabrücke, um seine nächtlichen Räubereien fortzusetzen, und verbreitete in dem ganzen Viertel Schrecken und Entsetzen.

 

Allein jetzt müssen wir zu dem General zurückkehren, der die ursprüngliche Veranlassung unserer phantastischen und doch so wahrhaftigen Geschichte ist. Zunächst müssen wir ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß ihn nach Akakis Fortgehen ein gewisses Mitleid überkam. Das Gerechtigkeitsgefühl war seinem Herzen keineswegs fremd – nein, er hatte sogar verschiedene gute Eigenschaften, nur daß die Vernarrtheit in seinen Titel ihn verhinderte, sich von seiner guten Seite zu zeigen. Als sein Freund ihn verlassen, beschäftigten sich seine Gedanken mit dem unglücklichen Titularrat, und von diesem Augenblick an sah er ihn fortwährend, niedergebeugt durch den strengen Verweis, den er ihm erteilt hatte. Dieses Bild verfolgte ihn derart, daß er endlich eines Tags einen seiner Beamten beauftragte, sich zu erkundigen, was aus Akaki geworden und ob man noch etwas für ihn tun könne.

 

 

Als der Bote mit der Meldung zurückkehrte, der arme Beamte sei fast unmittelbar nach seiner Audienz gestorben, da empfand der General den Stachel der Gewissensbisse, und den ganzen Tag blieb er in finstere Grübelei versunken.

 

Um seine unangenehmen Empfindungen loszuwerden, begab er sich gegen Abend in das Haus eines Freundes, wo er eine angenehme Gesellschaft und, was die Hauptsache war, auch einige andere Personen als nur Beamte seines Ranges zu finden hoffte, so daß er sich nicht geniert zu fühlen brauchte.

 

Und in der Tat fühlte er sich dort bald von allen melancholischen Gedanken befreit; er wurde lebhaft, er taute auf, mischte sich ohne weiteres in die Unterhaltung und verbrachte einen sehr schönen Abend.

 

Beim Essen trank er zwei Glas Champagner, was, wie jedermann weiß, ein ziemlich wirksames Mittel ist, um wieder in heitere Stimmung zu kommen. Unter dem Einfluß des prickelnden Getränks kam ihm der Gedanke, nicht sofort nach Hause zurückzukehren, sondern einer Dame von deutscher Herkunft, namens Karoline Bengel, zu der er zärtliche Beziehungen unterhielt, einen Besuch zu machen.

 

 

Ich muß hier hervorheben, daß der imponierende General nicht mehr jung war, ja daß man ihn sogar als einen musterhaften Gatten und ehrenwerten Familienvater betrachtete. Zwei Söhne, von denen der eine bereits in einem Ministerialbüro arbeitete, und eine Tochter von sechzehn Jahren mit einem hakenförmigen Näschen, im übrigen jedoch recht hübsch, kamen jeden Morgen zu ihm in sein Zimmer, um ihm die Hand zu küssen und ihm einen guten Morgen zu wünschen.

 

Seine Frau, die noch eine schöne glänzende Erscheinung war, reichte ihm erst ihre Hand zum Kuß, dann ergriff sie die seine, um sie an ihre Lippen zu drücken. Obwohl er sich in seinen häuslichen Banden sehr glücklich fühlte, glaubte er doch noch in einem anderen Stadtviertel ein zweites zärtliches Band unterhalten zu müssen. Die Frau, der er seinen Überfluß an Zärtlichkeit anbot, war weder liebenswürdiger noch jünger als seine eigene; aber so sind die Rätsel dieses Lebens … Wir wollen hier nicht den Versuch machen, sie zu lösen.

 

Der General schritt also die Treppe hinab, warf sich in seinen Schlitten und sagte zu dem Diener:

»Zu Karoline Bengel.«

Sorgfältig in seinen Mantel gehüllt, machte er seinen Besuch in der besten Stimmung, in die ein Russe sich hineinzudenken vermag – in jener Stimmung, in der der Geist sich leicht in einem Kreise von Gedanken bewegt, von denen der eine immer angenehmer ist als der andere und die sich alle ganz ungesucht von selbst bieten. Er dachte an die Abendgesellschaft, in der er einige Stunden so angenehm verlebt, an all die treffenden Worte, durch die er die Gesellschaft in Lachen versetzt hatte. Einige davon wiederholte er sich mit halblauter Stimme und lachte noch einmal darüber.

 

 

Von Zeit zu Zeit jedoch ward er in seiner glücklichen Stimmung durch einen heftigen Windstoß gestört, der ihn plötzlich aus irgendeiner Ecke her überfiel und ihm einen Haufen Schneeflocken ins Gesicht schleuderte, ihm in die Falten seines Mantels drang und diesen wie ein Segel aufblähte, so daß er genötigt war, alle Kräfte anzuwenden, um ihn auf den Schultern festzuhalten.

Plötzlich fühlt er, wie eine mächtige Faust ihn kräftig am Kragen packt. Er wendet sich um, gewahrt ein kleines Männchen in einer alten Uniform und erkennt mit Entsetzen Akakis Gesicht – und dieses Gesicht war so bleich und eingefallen wie das eines Toten.

 

Der Titularrat öffnet den Mund und haucht eine Art Leichengeruch aus; und in demselben Augenblick hört der General mit unaussprechlichem Schaudern die Worte:

»Endlich habe ich dich! … So kann ich dich denn am Kragen packen … ich muß deinen Mantel haben … du hast dich nicht um mich gekümmert, da ich in Not war, ja du glaubtest mir noch Verweise geben zu müssen … Jetzt gib mir mal deinen Mantel her.«

 

Das versetzte dem hohen Würdenträger den Atem. In seinen Büros und namentlich seinen Untergebenen gegenüber war er ein Mann von imposanter Erscheinung – er brauchte nur die Augen auf einen Subalternbeamten zu heften, und alles um ihn herum rief: »Welch ein hoher, vornehmer Beamter!«

Aber wie viele hochmütige Beamte, hatte er vom Helden nur den äußeren Schein, und in diesem Augenblick befand er sich in solcher Aufregung, daß er ernstlich für seine Gesundheit fürchtete.

 

 

Mit fieberhafter zitternder Hand nahm er in eigner Person seinen Mantel ab und rief seinem Kutscher zu: »Nach Hause – schnell nach Hause!«

Als der Kutscher die Stimme hörte, die gar nicht klang wie sonst und die sehr oft von Peitschenhieben begleitet war, neigte er vorsichtig den Kopf und ließ seinen Schlitten wie einen Pfeil dahinfliegen. Kurz darauf befand sich der General in seinem Hausflur. Statt sich zu Karoline Bengel zu begeben, zog er sich in sein Zimmer zurück, ohne Mantel, mit bleichem Gesicht, wilden Blicken, und hatte eine so aufgeregte Nacht, daß am folgenden Morgen seine Tochter ausrief: »Aber Papa, bist du denn krank?«

 

 

Allein er sagte kein Wort, weder von dem, was er gesehen, noch von dem Hause, das er hatte besuchen wollen. Das Ereignis machte einen sehr starken Eindruck auf ihn. Von diesem Tage an richtete er an seine Beamten nicht mehr die heftige Anrede:

»Wissen Sie auch, mit wem Sie sprechen? Wissen Sie auch, wer vor Ihnen steht?«

Oder wenn es ihm doch einmal begegnete, in gebieterischem Tone mit ihnen zu sprechen, geschah es doch wenigstens erst, nachdem er ihre Bitte ganz angehört hatte. –

 

Und seltsam! Von diesem Tage an ließ sich das Gespenst nicht mehr sehen. Vermutlich war es nur der Mantel des Generals, den es so eifrig gesucht hatte; nun hatte es ihn, und es verlangte weiter nichts. Verschiedene Personen behaupteten jedoch, dieser schreckliche Tote lasse sich auch noch in anderen Stadtvierteln sehen … Ein Wachtposten hatte mit eigenen Augen das Gespenst aus einem Hause hervortreten sehen.

 

Allein dieser Wachtposten war eine so ängstliche Natur, daß die Leute sich wegen seiner Furcht schon mehr als einmal über ihn lustig gemacht hatten. Da er es nicht wagte, den fliehenden Schatten, den er an sich vorüberhuschen sah, festzuhalten, glitt er selbst in der Dunkelheit hinter ihm her. Plötzlich wandte der Schatten sich um und schrie ihn an: Was willst du? wobei er ihm eine Faust zeigte, wie kein lebender Mensch je eine solche besessen hat.

»Ich will nichts!« antwortete der Wachtposten und zog sich schleunigst zurück.

Dieser Schatten jedoch war größer als der des Titularrats und trug einen ungeheuren Schnurrbart.

Er ging mit großen Schritten auf die Obuchoffsche Brücke zu und verschwand dann in der nächtlichen Dunkelheit.

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Nikolaj Gogol – Der Mantel

Kurzgeschichte Russischer

Russische literatur

 

 

 

Hörbuch Deutsch: Der Mantel von Nikolai Gogol 

https://www.youtube.com/watch?v=-Wnfy8Oz2S0

 

 

 

Nicolai Gogol

 

Nikolai Gogol (Nikolai Wassiljewitsch Gogol, 1809-1852) war ein russischer Schriftsteller ukrainischer Herkunft. Er ist einer der wichtigsten Vertreter der russischsprachigen Literatur in der Ukraine (wikipedia).

 

 

 

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