F. PESSOA Gedicht TABAKLADEN von A. DE CAMPOS Deutscher Text

 

 

 

Fernando Pessoa

Alvaro de Campos

Tabakladen

 

Portugiesische Literatur

Portugiesische Schriftsteller

Text mit deutscher Übersetzung

 

 

Álvaro de Campos

Álvaro de Campos (15. Oktober 1890 – 30. November 1935) ist einer der verschiedenen heteronyme von Fernando Pessoa, weithin bekannt für seinen kraftvollen und wütenden Schreibstil.

Laut seinem Autor, Fernando Pessoa, wurde Alvaro De Campos in Tavira, Portugal, geboren. Er studierte Maschinenbau und schloss sein Studium in Schiffsingenieurwesen in Glasgow ab.

 

Gedichte Tabakladen

Die Gedichte von Alvaro de Campos repräsentieren die Apotheose von Fernando Pessoa Angst.
Die Gedichte von Alvaro de Campos (Fernando Pessoa) spiegeln die Suche nach existentiell besorgter Bedeutung wider. Seine Gedichte sind sowohl nostalgisch als auch selbstironisch.

Eine der ständigen sorgen des Dichters Alvaro De Campos ist die Identität: Er weiß nicht, wer er ist. Das Problem scheint nicht zu sein, dass er nicht weiß, was er sein soll. im Gegenteil: es will zu viel sein, alles.

Im Gegensatz zu Alberto Caeiro (ein anderes heteronym von Fernando Pessoa), der im Leben nichts verlangt, Alvaro De Campos fordert zu viel vom Leben.

Gute Lektüre.

 

 

 

Fernando Pessoa

Alvaro de Campos

Tabakladen

 

Text ins Deutsche übersetzt

 

 

 

Ich bin nichts.

Werde nie etwas sein.

Kann nie etwas sein wollen.

Und trage dennoch die Träume

der Welt allesamt in mir.

 

Fenster meines Zimmers,

Fenster eines der zahllosen Fenster der Welt,

um dessen Wesen niemand Bescheid weiss,

(Und wüsste einer Bescheid, was wüsste er schon?),

 

Ihr geht aufs Geheimnis der Strasse hinaus,

aufs unaufhörliche Auf und Ab ihrer Menschen,

Und unter allen Gedanken ist keiner,

der dieser Strasse beikommt:

So wirklich ist sie, so ungemein wirklich,

so über die Massen genau,

 

Mitsamt ihren Steinen und Wesen,

mitsamt dem Geheimnis der Dinge darunter,

Mitsamt dem Tod, die die Mauern mit Schimmel,

die Menschen mit weissen Haaren bedeckt,

Mitsamt dem Karren des Ganzen zum Nichts

hin kutschierenden Schicksals.

 

 

Besiegt bin ich heute,

als kennte ich die Wahrheit,

 

Hellsichtig heute,

als stünde der Tod mir bevor,

Durch nichts mit den Dingen

verwandt als durch Abschied:

Das Haus da, die Häuserzeile

Bildet schon eine lange Waggonreihe,

 

Im Innern meines Kopfes

Pfeift es zur Abfahrt,

Ein Rütteln der Nerven,

ein Rasseln der Knochen – wir setzen uns in Bewegung.

 

 

Ich weiss weder aus noch ein, wie einer, der grübelte,

fand und vergass.

 

 

Ich bin aufgespalten zwischen der Treue,

Die ich dem Tabakladen drüben als einem nach

aussenhin Wirklichen schulde,

Und der inneren Wirklichkeit der Empfindung,

dass alles nur Traum ist.

 

 

Alles ging daneben.

Allerdings hatte ich mir nichts vorgenommen,

und so war dies alles vielleicht nichts.

 

Den schönen Grundsätzen,

die man mir beibrachte,

Entsprang ich durch eines der Fenster,

die auf den Hof gingen.

 

 

Ich floh aufs Land

und hatte dabei Bedeutendes vor,

Aber ich stiess nur auf Gräser und Bäume,

Und wenn Menschen auftauchten,

so glichen sie den übrigen.

 

 

Ich trete vom Fenster zurück

und setze mich auf einen Stuhl.

Denken? Woran?

Was weiss ich denn von dem,

der ich einst sein werde,

ich, der ich nicht weiss, wer ich bin?

 

 

Sein, was ich denke?

Was denke ich nicht alles!

Alle diese Leute, die glauben dasselbe zu sein!

 

 

Ein Genie sein?

Wie ich Träumen jetzt hunderttausend

Gehirne davon, Genies zu sein –

Und wer weiss, ob auch nur eines

von ihnen in die Geschichte eingeht …

Von all diesen künftigen Grosstaten

bleibt höchstens ein Misthaufen übrig.

 

 

Nein, ich glaube nicht an mich. 

Wieviel Narrenhäuser! Wieviel Narren darin!

Wieviel Gewissheiten!

Wie steht es eigentlich um mich,

der ich keinerlei Gewissheit habe?

Um mich, der für sich selber nicht feststeht?

 

Wie viele so-für-sich-selbst-dahinträumende Genies

In all den Mansarden und Nichtmansarden der Welt!

Wieviel nobles, klarsichtiges Sinnen und Trachten!

Jawohl, durchaus so: nobel und klarsichtig –

Und – wer weiss? – vermutlich sogar erfüllbar …

Und all das kommt nie an den Tag

und findet nur taube Ohren …

 

 

Die Welt ist dessen, der geboren wird, sie zu erobern,

Und nicht etwa dessen, der träumt, dass er’s könnte –

So berechtigt sein Träumen auch sein mag.

 

 

Nie hat Napoleon die Träume geträumt, die ich träumte.

Nie hat Christus so viel Menschheiten an seine Brust gedrückt,

wie ich an meine mutmassliche Brust.

 

Nie schrieb Kant die Philosophien,

die ich insgeheim mir entwarf!

 

Und dennoch bin ich, für immer wohl,

der Mansardenmensch,

Obgleich ich in keiner Mansarde wohne.

 

Für immer nur der, der nicht dazu geboren wurde;

Für immer nur der, der das Zeug dazu hatte;

Für immer der, der da hoffte,

eine Tür würde ihm aufgetan neben einer blinden Wand,

Der im Hühnerhof einen Gesang auf die Unendlichkeit anstimmte,

Der die Stimme Gottes vernahm aus dem verschütteten Brunnen.

 

 

An mich selber glauben?

Nein, nicht mehr als an irgendein Ding …

 

 

Mag die Natur nur meinen glühenden Schädel überschütten

Mit Sonne und Regen, mag mir ihr Wind ums Haar streichen –

Im übrigen komme, was kommen mag,

oder es komme auch nichts …

 

 

Herzkranke Sklaven der Sterne,

Eroberten wir das All, ehe wir

aus unsern Betten stiegen,

Aber nun wachen wir auf, und siehe da,

die Welt ist undurchdringlich,

Wir steigen aus unsern Betten,

und siehe da, sie ist fremd,

Wir treten aus den Häusern, und sie ist die ganze Erde

Und alle Planeten dazu, und die Milchstrasse,

und die Unendlichkeit.

 

 

(Iss Schokolade, Kleine, Iss Schokolade!

Lass dir’s gesagt sein:

Es gibt nur eine Metaphysik, die der Schokolade.

Lass dir’s gesagt sein:

Bei sämtlichen Religionen gibt es nicht mehr zu lernen als in der Konditorei.

Iss, kleiner Schmutzfink, iss nur!

 

Was gäbe ich nicht drum,

so unverfälscht wie du Schokolade zu essen!

Aber ich – ich bin ja einer, der denkt,

Und wenn ich das Silberpapier entfernt habe,

das im übrigen Stanniol ist,

Geht sie mir in die Brüche, die Schokolade,

wie mir ja auch das Leben in die Brüche ging.)

 

 

Wenigstens bleibt von der Bitterkeit des niemals Erreichten

Die hastige Kalligraphie dieser Verse bestehn:

Die Trümmer eines Säulenganges,

der zum Unmöglichen hinführt.

Wenigstens gebe ich ja auch

mich selber einer Verachtung preis,

die keinerlei Tränen vergiesst,

Schleudre ich das schmutzige

Wäschestück meines Daseins

Mit vornehmer Geste in den Ablauf der Dinge,

Ohne dabei einen Waschzettel aufzubewahren,

Und bleibe daheim ohne ein Hemd.

 

 

Du, die du tröstest,

die du nicht bist und eben dadurch Trost spendest:

O griechische Göttin, zum Leben erwachte Statue!

O römische Patrizierin, so ungemein vornehm und unheilverkündend!

O Fürstin der Troubadours, huldvoll und farbengeschmückt!

O Marquise des Dix-huitième, so fern und so dekolletiert!

O vielberühmte Kokette aus der Zeit unsrer Väter –

Oder irgend etwas Modernes – wüsst’ ich nur, was oder wer! -:

Was oder wer ihr auch seid,

flüstert mir doch bitte etwas ein!

 

 

Mein Herz ist ein leergeschöpfter Eimer.

Wie jene, die Geister zitieren, zitiere ich Geister,

Zitiere ich mich selber – vergebens.

 

 

Ich trete ans Fenster

und erkenne die überdeutliche Strasse,

Ich sehe die Läden und die Gehsteige,

die vorüberrollenden Wagen,

Ich sehe kleiderbehangene lebendige Wesen,

die aneinander vorbeigehn,

Ich sehe die gleichfalls lebendigen Hunde.

Und all das bedrückt mich wie eine Verbannung,

Und all das mutet mich fremd an –

wie alles übrige auch.

 

Ich habe gelebt, studiert, geliebt, einen Glauben gehabt,

Und nun gibt es kaum einen Bettler,

den ich nicht darum beneidete, nicht ich zu sein.

 

Ich betrachte die Lumpen eines jeden,

die Wunden, die Lüge an ihm;

Und denke dabei: Vielleicht

Hast du nie gelebt, studiert, geliebt,

einen Glauben gehabt,

(Denn aus all dem lässt sich ja eine Wirklichkeit

zusammenflicken, ohne dass dabei irgend etwas zustandekäme)

Vielleicht hast du kaum gelebt,

Wie der abgetrennte Schwanz einer Eidechse,

der immer noch weiterzuckt.

 

 

Ich habe aus mir gemacht, was mir nicht möglich war,

Und was möglich war, unterliess ich zu tun.

 

Ich band mir die falsche Maske vor:

Man hielt mich für einen, der ich nicht war –

Ich widersprach nicht und kam mir abhanden.

 

Als ich sie dann abstreifen wollte,

Klebte sie mir am Gesicht.

Aber schliesslich bekam ich sie dennoch herunter

und sah in den Spiegel:

Ich war alt geworden. 

 

 

Ich war betrunken

und konnte mir die Maske nicht wieder vorbinden –

Ich hatte sie gar nicht abgenommen.

 

Ich warf die Maske fort

und schlief in der Garderobe

Wie ein Hund, den die Direktion duldet,

Weil er harmlos ist,

Und nun will ich diese Geschichte

zu Papier bringen und beweisen,

dass ich sublim bin.

 

Musikalische Quintessenz meiner unnützen Verse:

Gelingt es mir je, dich zu finden

als ein von mir erschaffenes Ding?

Dich zu finden, ohne dabei immerzu vor

dem Tabakladen zu stehen,

Mein Bewusstsein, da zu sein, unter den Füssen

Wie einen Teppich, in dem ein Betrunkener sich verheddert,

Wie eine von Zigeunern gestohlene Strohmatte,

die keinen Pfifferling wert war.

 

 

Aber jetzt ist der Inhaber des Ladens in der

Tür erschienen und stehengeblieben.

Ich betrachte ihn mit Unbehagen, mit halbverrenktem Hals,

Mit dem Unbehagen einer nur halbwegs begreifenden Seele.

Eines Tages stirbt er,

und eines Tages sterbe auch ich.

Er hinterlässt ein Ladenschild, ich –

ein paar Verse.

Dann verschwindet auch das Schild

und meine Verse desgleichen.

 

Und dann die Strasse,

wo das Ladenschild hing,

Und ebenso die Sprache, in der ich meine Verse schreibe.

 

Und schliesslich erlischt auch der Planet,

auf dem all das sich zutrug.

 

Und andere Wesen,

die eine gewisse Ähnlichkeit mit den Menschen haben,

Werden auf anderen Trabanten anderer Welten

Verseähnliches machen und hinter Schilderähnlichem leben.

 

Immerfort lebt so ein Ding einem andern gegenüber,

Ein Ding, ebenso unnütz wie das andere,

Immerfort ein Unmögliches,

das dem Wirklichen an Dummheit nichts nachgibt,

Immerfort das Geheimnis auf dem Grunde,

nicht minder gewiss als das schlummernde Geheimnis obenauf,

Immerfort dies oder das, oder weder dies noch das.

 

 

Aber ein Mann hat den Laden betreten

(um Tabak zu kaufen?),

Und die triftige Wirklichkeit nimmt mich in Anspruch.

 

Ich richte mich auf – energisch, überzeugt, menschlich –

Und schicke mich an, Verse zu schreiben,

darin ich das Gegenteil sage.

 

Ich zünde mir eine Zigarette an, während ich über diese Verse nachdenke,

Und geniesse die Zigarette als Befreiung von meinen Gedanken.

 

Ich begleite den Rauch auf seinen Wegen

Und geniesse in diesem hellhörigen und massgebenden Augenblick

Meine Entlassung aus sämtlichen Überlegungen

Und das Bewusstsein, dass alle Metaphysik

von einem vorübergehenden Unbehagen herrührt.

 

Dann lehne ich mich in meinen Stuhl zurück

Und rauche weiter.

Solange mein Schicksal es zulässt, will ich weiterrauchen.

(Wenn ich die Tochter der Waschfrau heiratete,

Wäre ich vielleicht glücklich.)

 

Dann stehe ich auf und gehe ans Fenster.

Der Mann verlässt jetzt den Laden

(und tut dabei sein Kleingeld in die Hosentasche?)

Aber – ich kenne ihn ja! Das ist ja der völlig unmetaphysische Esteves!

(Der Inhaber des Ladens erscheint in der Tür.)

 

Esteves hat eine Eingebung:

er wendet den Kopf und erblickt mich.

Er winkt mir, ich grüsse zurück: Wiedersehen, Esteves –

Und das Weltall fügt sich mir wieder zusammen, ohne Ideal, ohne Hoffnung,

Und der Inhaber des Ladens lächelt zu mir herüber.

..

.

Tabakladen – Fernando Pessoa (Álvaro de Campos)

Portugiesische Literatur, Portugiesische Schriftsteller

Text mit deutscher Übersetzung

 

 

 

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(Álvaro de Campos) Gedichte: Tabakladen

 

 

 

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